Düsseldorf. Vor 80 Jahren wurde Auschwitz befreit. Der Shoa-Überlebende Rubinstein warnt davor, den Holocaust zu vergessen. Er sieht neue Bedrohungen.
Landtag und Landesregierung erinnern am Montag in einer Gedenkstunde an die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz vor 80 Jahren. Weil nur noch wenige Überlebende vom Holocaust berichten können, weil weltweit Demokratien unter Druck geraten und der Antisemitismus auch in NRW zunimmt, werden zwei Fragen lauter: Ist es möglich, die Erinnerung an die Shoa zu bewahren? Und: Könnte das Grauen zurückkehren?
„Die Geschundenen konnten erstmals wieder das Wort Freiheit in den Mund nehmen“
Für Herbert Rubinstein, 1936 in Czernowitz in der heutigen Westukraine geboren, ist der Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz aus mehreren Gründen ein besonderer Tag. „Ich blicke zunächst mit Freude auf das, was am 27. Januar 1945 geschah: Dass in Auschwitz Geschundene, Traumatisierte, Verletzte, Unglückliche und Ausgehungerte erstmals wieder das Wort Freiheit in den Mund nehmen konnten“, erzählt der langjährige Geschäftsführer der jüdischen Gemeinden im Rheinland.
Am 27. Januar würde seine verstorbene Mutter Bertha Rubinstein ihren 114. Geburtstag feiern, und es ist der Tag der „Wiedergeburt“ von Rubinsteins zweitem Vater Max Rubin. „Er wurde am 27. Januar 1945 in Auschwitz befreit. Hätte er Auschwitz nicht überlebt, wäre er nicht mein zweiter Vater geworden“, fügt er hinzu. Sein leiblicher Vater, Max Rubinstein, hat den Krieg nicht überlebt, seine Großmutter Anna war ermordet worden.
Warnung vor der Geschichtsverdrossenheit der Jüngeren
Rubinstein blickt allerdings nicht nur mit Freude auf den Gedenktag. „Ich beobachte eine gewisse Geschichtsverdrossenheit. Viele Menschen haben heute zu dem Datum der Befreiung von Auschwitz keine Verbindung mehr“, sagte er dieser Redaktion und spricht von einer „Erosion der Wahrnehmung“. Die Diktatur sei nur noch die Geschichte von Großeltern und Urgroßeltern. „Die heute Lebenden haben sich an den Wohlstand gewöhnt und müssen erst lernen, die Ärmel hochzukrempeln und die Demokratie zu verteidigen. Sie müssen lernen, dass es sich nicht lohnt, Demagogen nachzulaufen, die einem das Blaue vom Himmel versprechen“, warnt der Rheinländer.
Rubinstein hat soeben in der „Jüdischen Allgemeinen“ einen offenen Brief veröffentlicht. Dort schreibt er: „Die Bedrohung durch eine neue Shoa ist kein Hirngespinst, sondern sie ist Realität. Und diese ,Shoa‘ wird nicht vor ,den Juden‘ in den jeweiligen Staaten haltmachen, sondern auch die heute noch freiheitliche Gesellschaft mit Terror überziehen.“
Wie lässt sich die Erinnerung an den Holocaust ohne Zeitzeugen bewahren?
Die Frage, ob die Erinnerung an Auschwitz ohne das persönliche Zeugnis von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bewahrt werden kann, beantwortet Rubinstein mit einem überraschend klaren Ja: „Wir haben heute durch die modernen Medien alle Möglichkeiten dazu, und die müssen auch genutzt werden, denn wir leben in einer abgestumpften Welt, in der die Gewaltschwelle so stark gesunken ist, dass Täter auf die Straße gehen und Unbekannte töten.“
Grund zur Hoffnung: Anne Franks Tagebuch erreicht immer noch viele Menschen
Zuversichtlich ist in dieser Frage auch die neue NRW-Antisemitismusbeauftragte Sylvia Löhrmann (Grüne): „Eine der wichtigsten Zeitzeuginnen, die schon lange tot ist, ist Anne Frank. Das Schicksal dieses jungen Mädchens bewegt junge und ältere Menschen noch heute. Ein Mädchen, das in einem Versteck ausharren muss, das über das Verliebtsein schreibt, über familiäre Konflikte, das in einem verbrecherischen System verraten und vernichtet wird. Das kleine Zeugnis dieses Buches erreicht Millionen Menschen.“ Der Sportjournalist Marcel Reif Marcel Reif habe zudem auf beeindruckende Weise dargestellt, was es für ihn bedeute, Sohn eines jüdischen Überlebenden zu sein. „Reifs Worte im Bundestag – ,Sei ein Mensch‘ – haben viele Menschen tief bewegt“, sagte Löhrmann dieser Redaktion.
Für NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU), die Anfang Januar mit Gesamtschülerinnen und -schülern aus Neuss die Gedenkstätte Auschwitz besuchte, sind Gefühle bei der Erinnerung an den Holocaust von größter Bedeutung: „Die Erinnerungsarbeit muss von einer Qualität sein, die berührt“, sagte sie in Krakau. Alle Schülerinnen und Schüler in NRW sollten im Laufe ihrer Schulzeit die Gelegenheit zum Besuch mindestens eines außerschulischen Erinnerungsortes an die NS-Verbrechen haben. Das müsse nicht Auschwitz sein. Selbst die Beschäftigung mit ,Stolpersteinen‘ könne diesen Zweck erfüllen. Aber die Erinnerung an das Grauen des Nationalsozialismus müsse tief hinein in die Köpfe und Herzen junger Menschen, denn: „Der Antisemitismus kommt wieder hoch, und das ist schwer auszuhalten“, sagt Feller.
Jeder Vierte in NRW hat antisemitische Einstellungen
Der Hintergrund: Judenfeindlichkeit ist laut einer im September 2024 vorgestellten „Dunkelfeldstudie“ in NRW weiter verbreitet als bisher angenommen. Bis zu 24 Prozent der rund 1300 Befragten haben demnach antisemitische Einstellungen, besonders Jugendliche hätten ein „ausgeprägtes israelfeindliches Weltbild“.
Sylvia Löhrmann ist angesichts des Rechtsrucks in der Welt und in Europa in großer Sorge: „Wir dürfen nicht nachlassen. Wenn wir Antisemitismus bekämpfen, schützen wir gleichzeitig unsere demokratischen Grundfesten: die Gewaltenteilung, die Pressefreiheit und die Menschenrechte.“
Falsche Bilder von Juden in den Köpfen vieler Menschen
Es sei unerträglich, wenn Jüdinnen und Juden mit deutscher Staatsbürgerschaft pauschal gleichgesetzt würden mit der Regierung Netanjahu. Es sei auch nicht gut, wenn Jüdinnen und Juden beispielsweise in Schulbüchern fast immer nur als Opfer dargestellt würden. „Die Arbeit gegen diese falschen Bilder in den Köpfen ist ein Dauerlauf, herausfordernder noch als ein Marathon“, betont Löhrmann.
Der Shoa-Überlebende Herbert Rubinstein, der als Kind im Ghetto von Czernowitz litt, ist trotz der schlimmen Erfahrungen Optimist geblieben. Sein Lebensmotto lautet: „Das Gute wird gewinnen.“ Er schränkt aber ein: „Man muss etwas dafür tun.“
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