Qamischlo. Der Brandenburger Jakob Rihn wollte beim Aufbau des Gesundheitssystems in Nordsyrien helfen. Dann verletzte ihn ein türkischer Angriff.

Als Jakob Rihn gerade Aufnahmen des ersten Einschlags filmt, explodiert hinter ihm ein zweites Geschoss. Sein Telefon fällt ihm aus der Hand, er stürzt zu Boden, sieht sein Blut auf die Straße tropfen. „Ich stand total unter Schock.“ So beschreibt der junge Deutsche den Moment, als eine türkische Drohne am Tischrin-Damm angreift. In Syrien herrscht noch immer Krieg. Im Norden des Landes attackiert die Türkei mit verbündeten islamistischen Milizen seit Wochen intensiv die kurdisch dominierten Selbstverwaltungsstrukturen.

Einige Tage später schickt Jakob Rihn eine Videoaufnahme und Bilder. Darauf ist er in einem Krankenhausbett zu sehen, das Gesicht und die Beine voll kleiner Wunden. Es sind Verletzungen, die ihm durch die Splitter beigefügt wurden, die bei der Explosion durch die Luft flogen. Rihn, 25, ist Physiotherapeut aus Brandenburg. Vor etwa einem Jahr ist er nach Syrien gereist, um beim Wiederaufbau des Gesundheitssystems im Nordosten des kriegswunden Landes zu helfen. In den vergangenen Jahren sind viele Deutsche in die Region gekommen.

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Syrien: Der Physiotherapeut aus Brandenburg wollte Hilfe leisten

Manche, wie Rihn um humanitäre Hilfe zu leisten. „Hier gibt es nach zehn Jahren Krieg so viele Kriegsverletzte, die nicht richtig versorgt werden“, sagt Rihn. Andere, um an der Seite der kurdischen Verteidigungseinheiten gegen den Islamischen Staat (IS) zu kämpfen. Nicht wenige haben das mit ihrem Leben bezahlt, etwa die Duisburgerin Ivana Hoffmann, der Kieler Konstantin Gedig oder der Karlsruher Kevin Jochim. Alles junge Leute, die von der Weltanschauung in Nordostsyrien angezogen wurden.

In Nordostsyrien haben säkular-progressive Kurden und ihre Verbündeten in den vergangenen Jahren ein Selbstverwaltungssystem aufgebaut. Ankara hält die dort herrschenden Parteien für Ableger der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die von der Türkei, aber von Deutschland oder den USA als Terrororganisation eingestuft wird.

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Die Regierung von Präsident Erdogan hat bereits mehrere Militäroffensiven gegen die Region durchgeführt. Sie fordert die Entwaffnung der Demokratischen Streitkräfte Syriens (SDF), den Verteidigungskräften der Selbstverwaltung – die allerdings enge Partner der westlichen Anti-IS-Koalition sind und waren, und die wesentlich zum Ende des Terrorkalifats beigetragen haben.

„Ich hatte eigentlich schon meine Rückreise nach Deutschland geplant“, erzählt Rihn. Doch Ende November startet die islamistische Hayat-Tahrir-as-Scham (HTS) von Idlib aus ihre Blitzoffensive, die wenige Tage später zum Sturz des Assad-Regimes führt. Gleichzeitig greifen die Türkei und mit ihr verbündete islamistische Milizen der Syrischen Nationalarmee (SNA) eine kurdisch kontrollierte Enklave nördlich von Aleppo an und vertreiben über 100.000 Menschen.

Jakob Rihn
Der 25-jährige Jakob Rihn wurde bei einem türkischen Dohnenangriff in Nordsyrien verletzt. © privat | Privat

Rihn beschließt zu bleiben und hilft den Flüchtlingen, die in Städten wie Rakka und Tabqa stranden. Als der syrische Langzeitdiktator am 8. Dezember das Land fluchtartig verlässt, „war die Hoffnung groß, dass der Krieg gestoppt wird und ein neues Syrien aufgebaut werden kann“, erzählt Rihn. Aber der Krieg im Norden geht weiter. Wenige Tage, nachdem der syrische Diktator am 8. Dezember das Land verlässt, erobern die SNA Manbidsch, eine Stadt, aus der die Kurden im Jahr 2016 nach monatelangen blutigen Kämpfen den IS vertreiben konnten.

Nach dem Fall von Manbidsch rücken die türkischen Verbündeten auf den Tischreen-Staudamm am Euphrat zu. Am 10. Dezember wird das Bauwerk nach Angaben der Selbstverwaltung durch einen Luftschlag schwer beschädigt. Hunderttausende Menschen sind in der Folge ohne Strom.

Kämpfer der Syrischen Nationalen Armee (SNA): Die mit der Türkei verbündetete Miliz kämpft weiter.
Kämpfer der Syrischen Nationalen Armee (SNA): Die mit der Türkei verbündetete Miliz kämpft weiter. © AFP | AAREF WATAD

Das Stauwerk ist von großer Bedeutung – nicht nur strategisch

Das Stauwerk ist allerdings nicht nur strategisch wichtig, weil es für die Energieversorgung benötigt wird. Der Damm ist auch der Zugang zu den östlich gelegenen kurdisch kontrollierten Gebieten. Fällt er unter türkische Kontrolle, könnte Kobane eingekesselt werden. Kobane liegt direkt an der türkischen Grenze. Die Kleinstadt machte vor zehn Jahren weltweit Schlagzeilen, als der IS versuchte sie einzunehmen, aber am erbitterten Widerstand der kurdischen Verteidiger scheiterte. Damals griff die von den USA geführte Koalition erstmals mit Luftschlägen in Syrien an, um die kurdischen Selbstverteidigungskräfte zu unterstützen.

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Syrien im Umbruch: Jubel, Hoffnung und neue Gefahren

Im Krisenmodus

„Ein Angriff auf den Tishrin-Damm birgt das Risiko einer verheerenden Katastrophe – nicht nur für die Menschen in Nord- und Ostsyrien, sondern für die gesamte Region“, sagt Ilham Ahmad, Co-Vorsitzende der Selbstverwaltung von Nordostsyrien: „Die Zerstörung würde die Wasserversorgung, Stromerzeugung und Lebensgrundlage von Millionen gefährden.“

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Kobane ist für die Kurden ein Symbol ihres Kampfes gegen den IS. Der türkischen Regierung ist sie ein Dorn im Auge. Sie will die kurdische Selbstverwaltung der Stadt mit aller Gewalt beenden. Bei einer Militäroffensive im Jahr 2019 konnten die türkischen Streitkräfte zusammen mit ihren islamistischen Verbündeten bereits Gebiete östlich von Kobane einnehmen. Gelingt es ihnen jetzt, den Tirschin-Damm einzunehmen, könnten sie auf die von ihnen bereits besetzten Gebiete vorstoßen – Kobane wäre eingeschlossen und könnte ausgehungert werden.

Zivilisten fahren ins Kampfgebiet – eine lebensgefährliche Protestform

Um gegen die anhaltenden türkischen Angriffe auf das Stauwerk zu protestieren, fahren Zivilisten ins Kampfgebiet. Es ist eine so umstrittene wie lebensgefährliche Form des Protests. Dreimal werden die Konvois angegriffen, berichtet die Selbstverwaltung. Rihn reist hin, um die ersten beiden Angriffe zu dokumentieren. Er sieht ausgebrannte Autos und Bombentrichter. „Es war schockierend.“ Dann explodieren erneut Geschosse. Seit dem Beginn der Mahnwachen am Stausee sollen laut kurdischen Angaben zwölf Zivilisten getötet und über 70 verletzt worden sein. Jakob Rihn ist mittlerweile im Norden des Irak. Er musste an einem Auge operiert werden.

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