Essen. 2025 sind mehrfach Drohnen über kritischer Infrastruktur in NRW gesichtet worden. Die Landesregierung hält eine russische Herkunft für „plausibel“.
Der 13. Januar 2025 war ein gewöhnlicher Montagabend im Chemiepark Marl, bis plötzlich eine Drohne über dem Gelände gesichtet wurde. Immer wieder stieg sie auf, überflog das Werk und tauchte wieder ab. Oder waren es doch mehrere Drohnen? Werkschutz und Polizei waren sich vor Ort nicht sicher, denn bis Mitternacht beobachteten sie immer wieder Manöver an unterschiedlichen Stellen.
Am selben Abend und nur wenige Kilometer vom Chemiepark Marl entfernt sollen sich ganz ähnliche Szenen abgespielt haben. Wie mehrere Medien, darunter der Spiegel, berichteten und die Polizei Recklinghausen bestätigte, wurden auch im Bereich des Munitionsversorgungszentrums West der Bundeswehr in Dorsten eine oder mehrere Drohnen gesichtet.
NRW-Spionageabwehr: Deutlich mehr Drohnenflüge registriert
Der Verdacht: Die Drohnen könnten für Russland spionieren, das seit geraumer Zeit kritische Infrastruktur in Deutschland attackiert. Das aber lässt sich nicht aufklären. „Solche Drohnensichtungen lassen sich weder politisch noch rechtlich zuordnen“, erklärt die Sicherheitsforscherin Verena Jackson vom „Center for Intelligence and Security“ der Bundeswehr-Universität München. Es gäbe auch andere Länder und Akteure, die über die nötigen technischen Fähigkeiten verfügten – aber auch das lasse sich schlecht beweisen.
Die steigende Zahl von Drohnenüberflügen in der Nähe kritischer Infrastruktur legt laut NRW-Innenministerium aber „den Schluss nahe, dass durch diese – zumindest zum Teil – staatlich initiierte Interessen verfolgt werden.“ Eine „russische Urheberschaft“ erscheine „grundsätzlich plausibel“, heißt es in einem Bericht der NRW-Landesregierung. „Allerdings liegen der zuständigen Behörde für Spionageabwehr bislang keine konkreten Erkenntnisse vor.“
Klar ist: Die nordrhein-westfälische Spionageabwehr registriert seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine wesentlich mehr Drohnenüberflüge über kritischer Infrastruktur und Einrichtungen des Militärs. Laut NRW-Innenministerium gab es im vergangenen Jahr insgesamt 232 Drohnensichtungen in NRW (davon 88 Fälle während der Fußball-Europameisterschaft). Zum Vergleich: 2023 waren es gerade einmal 77 Sichtungen, 2022 nur 83.
Spionage-Expertin: Drohnenpiloten sind wohl kilometerweit weg
Dass professionelle Akteure und keine Hobbyflieger hinter den Drohnensichtungen in Marl und Dorsten stecken, ist immerhin sehr wahrscheinlich. „Handelsübliche Hobbydrohnen stehen im ständigen Kontakt zum Steuergerät des Piloten“, so Spionage-Expertin Verena Jackson.
Das Signal zwischen den beiden Geräten ließe sich in der Theorie abfangen und könnte so zu dem Piloten führen. Anders sehe das bei professionellen Drohnen aus: „Mittlerweile kann eine solche Drohne auch irgendwo in einem Waldgebiet platziert werden und der Pilot sitzt hunderte Kilometer weit weg und steuert diese“.
Detailwissen: Der Unterschied zwischen Satelliten- und Drohnenaufnahmen
Anders als bei einer Satellitenüberwachung fällt ein Drohneneinsatz auf. Das nehmen die spionierenden Akteure für bessere Ergebnisse in Kauf, erklärt Verena Jackson von der Universität der Bundeswehr in München. „Satellitenbilder sind zwar mittlerweile hochauflösend, man kann damit fast ein Smartphone-Bildschirm lesen“, sagt sie. Jedoch sei der Erkenntnisgewinn beispielsweise von guten Wetterbedingungen abhängig.
Drohnen wiederum könnten auch nachts fliegen und vor allem auch Akustik aufnehmen. Zudem lieferten Drohnen Videomaterial, wodurch – anders als bei statischen Bildern von Satelliten – Bewegungen oder Abläufe besser ausgekundschaftet werden könnten. „Gerade bei Spionage-Aktionen gelangt man so zu einem viel umfassenderen Lagebild“, fasst die Wissenschaftlerin zusammen. „Meistens werden Satellitenbilder mit Drohnenaufnahmen kombiniert, um herauszufinden, wie die Lage vor Ort ist“.
Flugverkehrszonen: Wo Drohnen nicht fliegen dürfen
„Normale Hobbydrohnen haben in der Regel sogenannte No-Fly-Zones, also ein Geofencing, eingebaut“, erklärt Jackson weiter. „Nutzer bekommen entweder eine Warnmeldung, wenn sie sich Flugverbotszonen nähern, oder die Drohnen sind so programmiert, dass sie sich bestimmten Gebieten gar nicht nähern können.“
Das Munitionszentrum West ist als militärische Anlage eine solche Flugverbotszone und auch der Chemiepark Marl darf als Teil kritischer Infrastruktur nicht überflogen werden. Thilo Höchst, zuständig für die Anlagensicherheit im Verband der Chemischen Industrie (VCI), erklärt: „Schon eine Annäherung von weniger als 100 Meter Abstand zu einem Chemiestandort ist ein Verstoß gegen die Luftverkehrsordnung“.
Weitere Drohne über Ruhrchemie in Oberhausen gesichtet
Trotzdem seien „in letzter Zeit“ verstärkt Drohnenüberflüge über Chemieanlagen zu beobachten gewesen, sagt Höchst. „Wir hatten ebenfalls einen solchen Fall“, bestätigt so zum Beispiel OQ Chemicals einen Drohnenüberflug auf Nachfrage. Zu dem Unternehmen gehört unter anderem das Werk Ruhrchemie in Oberhausen mit 1.300 Mitarbeitern.
Thilo Höchst vom VCI erklärt, dass Chemieunternehmen auf Drohnenflüge vorbereitet sind, möchte aber aus Sicherheitsgründen nicht ins Detail gehen. „Die Unternehmen erstellen Anweisungen, wie sich Mitarbeiter bei Sichtung einer Drohne zu verhalten haben“, erklärt er. „Oftmals werden Polizei, Gefahrenabwehrkräfte oder der Staatsschutz eingeschaltet“.
Drohnenabwehr: Gesetzliche Grundlage fehlt
Mitarbeiter des Chemieparks Marl drückten im Gespräch mit unsrer Redaktion jedoch ihre Sorgen aus: Wie sollen sie auf die Drohnen reagieren und welchen Zweck haben solche Überflüge? Fakt ist, dass es noch keine gesetzliche Grundlage für die Abwehr von Drohnen gibt. Zukünftig soll die Bundeswehr Drohnen abschießen dürfen, doch das muss erst von der Bundesregierung beschlossen werden.
Über das Ziel der Drohnenüberflüge in Marl und Dorsten kann nur gemutmaßt werden, das sagt auch Sicherheitsforscherin Verena Jackson. In der Regel gibt es drei Gründe für solche Einsätze, erläutert sie:
- Orte wie zum Beispiel Truppenübungsplätze oder Infrastruktur in Echtzeit ausspionieren.
- Unsicherheit erzeugen, eine politische und gesellschaftliche Diskussion auslösen sowie technische Überlegenheit vermitteln.
- Im schlimmsten Fall, mit den gewonnenen Informationen Operationen beziehungsweise Angriffe planen.
Die Wissenschaftlerin begrüßt, dass Drohnen-Spionage nun politisch „endlich auf der Agenda“ steht. Ob so kurz vor den Bundestagswahlen im Februar noch eine Entscheidung in Berlin getroffen wird, ist jedoch unwahrscheinlich.