Berlin. 16 Jahre lang war Angela Merkel die Bundeskanzlerin. Ihre Memoiren erscheinen am Dienstag – einen Vorgeschmack liefert sie schon vorab.
- Angela Merkel veröffentlicht ihre Memoiren
- Dem „Spiegel“ hat sie ein langes Interview gegeben
- Darin spricht sie über Scholz, Lindner – und eine große Herausforderung
Dieser Tage erscheint ein Buch, das nicht nur bei Historikerinnen auf großes Interesse stoßen wird: Altbundeskanzlerin Angela Merkel veröffentlicht ihre Memoiren, am 26. November ist es so weit. „Freiheit“ heißt das Werk, rund 700 Seiten stark, eine Bilanz: vor allem mit ihrer Russlandpolitik, aber auch zur sogenannten Flüchtlingskrise, und zu ihrem Verhältnis mit dem einstigen und nächsten US-Präsidenten, Donald Trump.
Dem „Spiegel“ hat Merkel nun ein Interview gegeben, in dem sie einiges von dem, was bald in den Buchhandel kommt, vorweggenommen haben dürfte. Aber auch auf den Bruch der Ampel und das denkwürdige Auftreten des Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) kommt Merkel (CDU) zu sprechen. Wir haben die fünf Kernpunkte aus dem Gespräch zusammengefasst.
1. Trump gewinnt die Wahl – und dann?
Ihre Memoiren hat Merkel fertig geschrieben, da war die vielleicht bedeutendste Wahl des 21. Jahrhunderts noch nicht entschieden. Zwischenzeitlich ist klar: Donald Trump wird neuer US-Präsident. Was hat die Altkanzlerin gedacht als am Morgen des 7. November die Eilmeldungen zum Trump-Sieg die Handys in der Republik zum Glühen brachten?
„Dass die Umfragen mal wieder daneben lagen“, erzählt Merkel dem „Spiegel“. Zeitungsseitenweise habe man von Umfragen gelesen, die Kamala Harris vor Trump sahen. Und dann: „Trauer.“ Wie 2016, als Hillary Clinton gegen Trump verlor. „Ich hätte es mir anders gewünscht“, verrät die Altkanzlerin.
Trump sei „eine Herausforderung“ für die Welt, „insbesondere den Multilateralismus“, also die gleichberechtigte Zusammenarbeit der Nationen. Und Merkel wird, mit Blick auf die nächsten vier Jahre, deutlich: „Was uns jetzt erwartet, ist wirklich nicht ohne.“ Sorgen bereiten Merkel offenbar auch die Verstrickungen Trumps mit dem Silicon Valley, namentlich Elon Musk. Der verfügt mit seiner Social-Media-Plattform X, dem Satellitennetzwerk Starlink und seinem enormen Vermögen über beträchtliche Macht. „Das muss uns zusätzlich zu politischen Fragen enorm beschäftigen.“ Sie spricht von einer „ungekannten Herausforderung für uns alle“.
„Was uns jetzt erwartet, ist wirklich nicht ohne“
2. Über Scholz und Lindner kann Merkel nur den Kopf schütteln
Emotionen spielten in der Politik von Angela Merkel eher eine untergeordnete Rolle, die Kanzlerin war stets um ein staatsfrauliches Auftreten, einen kühlen Kopf, bemüht. Der Bruch der Ampelkoalition und das anschließende Auftreten der beteiligten Scholz und Ex-Finanzminister Christian Lindner wirkt da wie das krasse Gegenteil. Vorwürfe und persönliche Abrechnungen statt Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zum Wohle des Landes. Was ihr angesichts dieses „Dramas“ durch den Kopf gegangen sei?
Merkels Antwort: „Mein spontaner Gedanke: Männer!“ In der Politik sei tunlichst zu vermeiden, die Dinge zu persönlich zu nehmen, wie es Männer aus Merkels Sicht täten. Dennoch sind ihr Emotionen nicht fremd, man verspüre als Kanzler oder Kanzlerin „eine Menge“ davon, aber: „Besser ist, man schreit die Wand in seinem Büro an als die deutsche Öffentlichkeit“. Zwar sagt sie es nicht wortwörtlich, aber aus Merkels Worten ist deutlich herauszulesen, dass sie Scholz‘ Auftritt für mindestens ungeschickt hält, der Würde das Amtes nicht gerecht.
Freilich muss auch Merkel gestehen, dass die FPD kein einfacher Partner ist. „Aber sie existiert, und Politik beginnt eben mit dem Betrachten der Realität“, sagt die 70-Jährige, die selbst einmal eine Koalition mit den Liberalen eingegangen war, auch vor dem Hintergrund jüngster Berichte, nach denen die Partei monatelang am Bruch der Koalition gearbeitet haben soll. Ihre Analyse: Kleine Koalitionspartner, interessanterweise nennt sie hier auch die CSU, täten sich „immer schwer damit, das Gesamtwohl im Blick zu halten“.
„Besser ist, man schreit die Wand in seinem Büro an als die deutsche Öffentlichkeit“
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3. Merkel und Merz: „Das war seine Entscheidung“
Merkel hat die CDU in 18 Jahren als Parteivorsitzende stark verändert, zu einer Volkspartei, die ihre Mehrheiten in der Mitte der Gesellschaft sucht, auch mal mit den Grünen koaliert. Auch wenn der aktuelle Parteichef Friedrich Merz an der Basis als eine Art Anti-Merkel betrachtet wird, der konservative Sehnsüchte bedient: Ganz entfernen wird er sich von diesem Kurs nicht – alleine schon, weil die Aussicht auf Mehrheiten rechts der Mitte trüb sind. Wie steht Merkel zum Kanzlerkandidaten, den sie 2002 regelrecht abgekanzelt hatte? Ob es ein Fehler gewesen sei, ihm den Fraktionsvorsitz zu nehmen?
„Nein, wieso?“, fragt die Altkanzlerin zurück. Es sei seine Entscheidung gewesen, 2004 das Amt – Merkel hatte ihn in der Fraktion zum Stellvertreter degradiert – abzugeben. Was folgt, lässt einigermaßen tief in Merkels Seele blicken: Sie habe 2002 auch den Kürzeren gezogen, gegen den damaligen CSU-Chef Edmund Stoiber, „das fiel mir nicht leicht“. Sie habe aber eingesehen, dass Stoiber damals der geeignetere gewesen sei. „So viel Einsicht erwarte ich auch von anderen.“
Wie sie Merz‘ Eignung für das Amt des Bundeskanzlers beurteilt, will sie nicht direkt sagen, aber ihrer Antwort sind zumindest eine große Portion Zweifel zu entnehmen: „Er muss jetzt einen Wahlkampf führen, in dem er das beweisen kann“, antwortet sie zuerst, um dann auf Nachfrage Merz noch zumindest „irgendwelche Eigenschaften“ zuzugestehen, die „ihn dazu befähigen“. Man werde nicht ohne Grund Kanzlerkandidat, gibt sie sich versöhnlich.
4. Migration: Wir schaffen das?
Ein nicht unerheblicher Teil des Interviews geht auf eines der Kernthemen ihrer Kanzlerschaft ein: Migration und die Entscheidung im Sommer 2015, die Grenzen für Fliehende aus Ungarn zu öffnen. Merkel will darin keinen Fehler sehen, im Gegenteil: „Ich hatte damals das Gefühl, ich hätte sonst die gesamte Glaubwürdigkeit der Sonntagsreden über unsere tollen Werte in Europa und die Menschenwürde preisgegeben.“
Die Vorstellung, Wasserwerfer an der Grenze auffahren zu lassen, um vor Assads Folterknechten und Putins Bomben geflohene Menschen von der Straße zu spülen, „war für mich furchtbar und wäre sowie keine Lösung gewesen“. Dabei habe sie die Ängste der Menschen vor zu viel Zuwanderung und islamistischem Terror „immer sehr ernst genommen“, aber: „Es gibt auch eine zweite Gruppe in der Bevölkerung, die Angst hat, und zwar davor, dass wir zu intolerant und hart werden.“ Als Kanzlerin habe sie beide Gruppen im Blick behalten.
Im Gesprächsverlauf wird klar, dass Merkel im Sommer 2015 aus zutiefst mitmenschlichen Gründen gehandelt hat. Es sei „selbstverständlich“, zu Menschen, die Hof, Familie und Freunde zurückließen, „erstmal freundlich zu sein, unabhängig davon, ob sie bleiben dürfen oder nicht“. Schließlich erwarte Geflüchtete in der Bundesrepublik „auch nicht das tollste Leben“.
5. Alternativlos: Die Russland-Politik von Wandel durch Handel
Als größtes Erbe der Ära Merkel dürfte einmal gelten, einem zunehmend autokratisch-auftretenden Präsidenten Wladimir Putin zu lange nicht entschieden genug entgegengetreten zu sein. Billiges Gas für die deutsche Wirtschaft statt Nato-Betritt für die Ukraine – eine gerechtfertigte Zuspitzung?
Es sei aus ihrer Sicht „zwingend“ gewesen, Konflikte mit Russland „friedlich zu bewältigen“. Zumal: Für einen Abbruch des Gashandels habe sie „keine politischen Mehrheiten gehabt“ und „schon gar keine Zustimmung aus der Wirtschaft“. Nord Stream 2 sei außerdem der Versuch gewesen, Verbindung zu Putin zu halten, „ihn am Wohlstand teilhaben zu lassen“.
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Sie habe, „nebenbei bemerkt“, beim ersten Angriff Putins auf die Ukraine, „keine Außenseiterrolle in Europa gehabt“. Es sei „schwer genug“ gewesen, die EU-Partner davon zu überzeugen, „wenigstens ein paar Sanktionen“ zu verhängen. Ob der Krieg nun gegebenenfalls auch gegen den Willen der Ukraine zu Ende verhandelt werden müsse? „Nein.“ Wenn Europa aus gemeinsamem Interesse die Ukraine unterstützt, dann „müssen wir auch alle Schritte zur Beendigung des Krieges gemeinsam gehen“.