Berlin. Viel ist nicht zu sehen: Tische, Monitore, eine Digitaluhr. Doch was in diesem Berliner Raum besprochen wird, entscheidet über Leben und Tod.
Es ist erst einige Tage her, da saßen sie wieder beisammen und hatten eine brisante „Gefahrenlage“. Es musste schnell gehen, sehr schnell, hier im zweiten Stock im Backsteingebäude einer früheren Kaserne aus der Kaiserzeit am Treptower Park in Berlin. Ein Mann will offenbar losschlagen, mit Schusswaffen. Im Visier nach Erkenntnis der Polizei: die israelische Botschaft in Berlin.
Die deutschen Sicherheitsbehörden hatten einen Tipp aus dem Ausland bekommen. Omar A., ein 28 Jahre alter Geflüchteter aus Libyen, soll sich radikalisiert haben, er soll Anhänger der Terrororganisation „Islamischer Staat“ sein. Nun liegt der Fall auf dem Tisch im Raum des Bundeskriminalamts (BKA), und den Ermittlern bleibt wenig Zeit.
Der Raum, der so wichtig wie kaum ein anderer Ort der deutschen Terrorismus-Bekämpfung ist, wirkt nicht spektakulär. Tische sind zu einem großen Rechteck zusammengebaut, vielleicht 15 Meter lang, dazu blaue Bürostühle, flache Monitore. In der Mitte des Raums leuchtet eine Digital-Uhr mit verschiedenen Zeitzonen: New York, Berlin, Riad, Kabul. In einer Ecke sind die Nationalflagge und die Europa-Fahne postiert, daneben drapiert an der Wand: die Wappen der Bundesländer. In der Mitte ein Symbol mit vier Buchstaben „GTAZ“.
Terror-Abwehr: GTAZ ist eine „Plattform“
GTAZ steht für Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum. Das System im Kampf gegen gewaltbereite Extremisten ist in Deutschland föderal aufgebaut. Polizeiarbeit ist vor allem Ländersache, Gefahrenabwehr auch. Manche sagen: Die deutsche Sicherheitsarchitektur ist ein Flickenteppich aus Landeskriminalämtern, Bundesbehörden, Zoll, Landesnachrichtendiensten. In diesem Teppich ist das GTAZ in Berlin so etwas wie die Nahtstelle. Der Ort, an dem die Fäden zusammenlaufen sollen, wenn Gefahr durch Islamisten wie Omar A. droht.
Das GTAZ ist keine Behörde mit einem Mitarbeiter-Stab. Es ist vielmehr eine „Plattform“, oder, wie Beamte sagen, ein Ort für den „operativen Informationsaustausch“. Wenn alle kommen, sitzen „Verbindungsbeamte“ aus 40 Behörden im GTAZ. Darunter auch der Zoll und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, weil gerade im Bereich Islamismus die Täter oft als Asylsuchende nach Deutschland kamen. Die meisten, das legen Analysen nahe, wenden sich erst hier der radikalen Ideologie zu.
Im GTAZ treffen sich immer wieder Arbeitsgruppen von Bund und Ländern. Neben der „Täglichen Lagebesprechung“ kommen die Beamten zu Sitzungen zum „Risikomanagement“ und zu „Statusrechtlichen Begleitmaßnahmen“, etwa Abschiebungen von ausländischen Straftätern, zusammen. Auch Maßnahmen zur „Deradikalisierung“ spielen eine Rolle. Vor allem aber geht es um wirklich gefährliche Islamisten.
Wenn Ermittler und Nachrichtendienstler Fälle bearbeiten, kommt es auf Vertrauen an. Noch immer herrscht unter einigen Beamten in den Dienststellen Misstrauen, wenn andere Behörden brisante Informationen einsehen wollen. Noch immer sind Regeln für Datenschutz und Polizeibefugnisse von Land zu Land in Teilen verschieden. Im GTAZ kennen sich die Beamtinnen und Beamten, viele von ihnen sehen sich wöchentlich. Das senkt Hürden im Einsatz gegen mutmaßliche Terroristen.
„Das GTAZ ist eine ganz zentrale Schlüsselstelle im Kampf gegen Terroristen“, sagt Sven Kurenbach im Gespräch mit unserer Redaktion. Er ist Leiter der Abteilung „Islamistisch motivierter Terrorismus/Extremismus“ beim BKA und seit vielen Jahren erfahrener Ermittler im GTAZ. „Wir tauschen uns untereinander schnell und unkompliziert aus. Genau diese Schnelligkeit ist insbesondere in dynamischen Gefahrenlagen entscheidend.“
Oftmals sind die Akten als „geheim“ eingestuft, die Informationen vertraulich. Die Tipps, die deutsche Ermittler von Nachrichtendiensten aus dem Ausland erhalten, sind unterschiedlich „wertig“. Manchmal mit Details zu Namen, Adressen, Tatplänen. Manchmal bekommen sie nur einen „Decknamen“ – und müssen schnell mehr wissen. Dann rufen sie die beteiligten Behörden im GTAZ zusammen, Ermittler aus den Landeskriminalämtern, Geheimdienstler, Strafverfolger vom Generalbundesanwalt und Abteilungsleiter vom BKA wie Kurenbach.
Gemeinsam gehen die Sicherheitsbehörden im GTAZ die Fälle durch, manchmal dauert es nur einige Minuten, und sie sind sich einig, ob ein Mensch gefährlich ist oder nicht. Bei anderen Fällen beraten die Fachleute länger. Allein knapp 500 Personen stuft die Polizei aktuell als sogenannte „islamistische Gefährder“ ein, Menschen, denen die Behörden jederzeit eine schwere Gewalttat wie einen Anschlag zutrauen. So viele Islamisten können Polizei und Verfassungsschutz nicht dauerhaft überwachen. Sie müssen Schwerpunkte der Polizeiarbeit setzen, müssen filtern, wen sie besonders im Visier behalten. Und wen nicht. Fehler bei der Bewertung können fatale Folgen haben.
Sich vertrauen, sich vernetzen, sich beraten – dafür wurde das GTAZ gegründet, 2004, heute vor 20 Jahren. Damals waren die deutschen Sicherheitsbehörden noch mit den Schockwellen des Terroranschlags auf New York befasst. Ein Grund, warum die aufwendigen Pläne der Täter für die Angriffe per Flugzeug auf das World Trade Center nicht verhindert wurden: Die Behörden tauschten ihre Erkenntnisse viel zu wenig untereinander aus.
Die Bundesregierung in Deutschland reagierte – und richtete das GTAZ ein. Der damalige Innenminister Otto Schily (SPD) sprach von einem „erheblichen Qualitätssprung“ und einer „maßgeschneiderten Einrichtung“. Bis heute loben die Innenminister das Zentrum, kommen regelmäßig zu Besuch.
2016 half das „maßgeschneiderte“ GTAZ nicht: Islamist Amri tötete mehrere Menschen
Im Fall des Libyers Omar A. ermittelten die Sicherheitsbehörden in wenigen Stunden den Aufenthaltsort, Spezialkräfte rückten aus. Der Tatverdächtige wurde gefasst, sitzt in Untersuchungshaft. Einen Anschlag konnten die Beamten verhindern. „Vom ersten Hinweis bis zur Festnahme waren gerade einmal rund 24 Stunden vergangen“, sagt Abteilungsleiter Kurenbach. „Das zeigt das Potenzial der Zusammenarbeit im Anti-Terror-Einsatz hier im GTAZ.“
Doch 2016 half das „maßgeschneiderte“ GTAZ nicht. Im Februar tauchte damals erstmals in dem Raum in Treptow der Fall eines Islamisten namens Anis Amri auf. Bis Ende des Jahres war der Islamist mehrfach auf der Agenda der Besprechungen, an denen neben dem BKA vor allem Ermittler aus Berlin und Nordrhein-Westfalen teilnahmen. Im Dezember, kurz vor Weihnachten, raste Amri mit einem Lastwagen auf den Berliner Weihnachtsmarkt, tötete mehrere Menschen.
Die Causa Amri ist komplex, das Behördenversagen ebenso – und wurde in mehreren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen besprochen. Der mangelhafte Austausch von Informationen über Amri aber war neben Fehleinschätzungen über seine Radikalität ein zentrales Versäumnis. Linke, Grüne und FDP halten 2021 im Abschlussbericht zum Breitscheidplatz-Attentat fest, dass die „Einrichtung eines Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums alleine“ und das „jahrelange Ausruhen auf der bloßen Existenz“ eines solchen Gremiums „absolut unzureichend“ gewesen sei. Es fehlten Protokollregeln, ein rechtlicher Rahmen, so die Abgeordneten. Oftmals tauschen sich die Beamten nur mündlich aus.
Denn bis heute arbeitet das GTAZ ohne ein eigenes Gesetz. Das ist in Deutschland relevant, denn es gilt das „Trennungsgebot“: Polizei und Nachrichtendienste sollen getrennt arbeiten, es soll keine „Geheimpolizei“ entstehen, kein „polizeilicher Geheimdienst“. Die Bundesrepublik hat aus der NS-Zeit Lehren auch in der Sicherheitspolitik gezogen.
Die „Ampel“ wollte ein GTAZ-Gesetz verabschieden – doch danach sieht es nicht mehr aus
Bisher hielten die Regierungen die bestehenden GTAZ-Regeln für ausreichend. Das Ampel-Bündnis aber hielt im Koalitionsvertrag fest, man wolle für die Arbeit der „Gemeinsamen Zentren“ in Deutschland „gesetzliche Grundlagen“ schaffen – und „Verantwortlichkeiten klarer festlegen“ sowie „lückenlose Kontrolle durch Parlamente“ garantieren.
Die Ampel-Koalition ist nun Geschichte. Und auch in Sachen GTAZ-Gesetz scheint in den vergangenen Jahren nicht viel passiert zu sein. Auf Nachfrage teilt das Bundesinnenministerium lediglich mit, man sei in „Abstimmung mit den Ländern“. Eine Sprecherin berichtet von einem „frühen Austausch auf Fachebene“. Und: „Zu laufenden Gesetzgebungsverfahren“ könne man „leider keine weiteren inhaltlichen Informationen“ geben.
Wer mit Ermittlern in Staatsschutzstellen spricht, hört eher Erleichterung darüber, dass das Gesetz bisher nicht kommt. Viele sorgen sich vor zu vielen Vorschriften und Protokollpflichten. Das könne den schnellen Austausch zu Terrorverdachtsfällen behindern. Zudem sei Datenschutz in den jeweiligen bestehenden Behördengesetzen geregelt.
Nach den Fehlern im Fall Amri haben die Polizeibehörden reagiert – und eine Software aufgebaut: „Radar iTE“. Es ist ein ausgeklügeltes Prognosewerkzeug, das mit Hilfe von Daten und Algorithmen besser erkennen soll, wie gefährlich ein Islamist ist. Aus einem Katalog mit Dutzenden Kriterien entstehen Personagramme, Profile über Menschen, das soziale Umfeld und die Kindheit, die Gewalterfahrung, aber auch die Kontakte in die islamistische Szene und die Affinität zu Waffen. „All das sind Faktoren, die auf den Grad der Radikalisierung schließen lassen“, sagt Kriminalbeamter Kurenbach.
Heute, davon geht die Polizei aus, hätte die Software Radar iTE beim Attentäter Anis Amri sofort die höchste Alarmstufe angeschlagen.
Lesen Sie auch: Die Sorge der Behörden vor den „Franchise“-Terroristen