Berlin. Am 9. November 1938 brannten in ganz Deutschland jüdische Gotteshäuser. In Berlin stellte sich ein mutiger Beamter gegen die SA-Schläger.
Wilhelm Krützfeld hat am Abend des 9. November 1938 schon lange Dienstschluss, als ihn in seiner Wohnung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg ein Anruf aus seiner Dienststelle erreicht. Der Polizeioberleutnant ist Leiter des Polizeireviers 16 am Hackeschen Markt, zu dessen Einzugsbereich die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße gehört, die größte und prächtigste der Hauptstadt. Krützfeld hatte schon vorher aus Polizeikreisen gehört, dass die SA in dieser Nacht jüdische Einrichtungen angreifen und in Brand stecken wollte. Nun kommt die Bestätigung: In der Synagoge waren SA-Männer beobachtet worden, die Feuer legten.
Der Polizeioffizier beorderte sofort einen Trupp seiner Kollegen in die Oranienburger Straße und ließ sich selbst dorthin fahren. Mit gezückter Pistole verjagte er die Brandstifter und alarmierte die Feuerwehr. Er hatte einen Aktendeckel mit einem Dokument dabei, das belegte, dass die Synagoge als kulturell bedeutsames Gebäude unter Polizeischutz stand. Das überzeugte die Einsatzleiter der Feuerwehr, die sich ansonsten entsprechend einer Weisung der Nazibehörden in dieser Nacht darauf konzentrierte, nur die Nachbargebäude brennender Synagogen und jüdischer Geschäfte zu schützen. Hier löschten sie das Feuer in der Synagoge.
Goebbels und Heydrich inzenieren die Gewaltorgie als „spontanen Volkszorn“
In der Oranienburger Straße lagen am nächsten Morgen Glasscherben und angekokelte Bücher auf dem Gehweg, doch das Gebäude war kaum beschädigt. Bald konnten wieder Gottesdienste stattfinden. Hätte die Brandstiftung Erfolg gehabt, wäre wohl der ganze jüdische Straßenblock in Flammen aufgegangen, mit Krankenhaus, Museum und Gemeindeverwaltung.
Ausgangspunkt des antijüdischen Pogroms, das später oft verharmlosend als „Reichskristallnacht“ bezeichnet wurde, war ein „Kameradschaftsabend“ der NSDAP in München, auf dem Propagandaminister Joseph Goebbels in einer Hetzrede zur Zerstörung jüdischer Geschäfte und Synagogen aufgerufen hatte. Er gab darin den Juden generell die Schuld für den tödlichen Anschlag eines 17-jährigen Juden auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath zwei Tage zuvor in Paris und forderte Vergeltung.
Am Abend des 9. November fanden überall in Deutschland ohnehin Feiern der NSDAP zum 15. Jahrestag des Münchener Putschversuchs von Adolf Hitler statt. Von dort zogen vielerorts SA- und SS-Aktivisten los, um jüdische Einrichtungen anzugreifen. Nach Goebbels Willen sollte dies als „spontaner Volkszorn“ inszeniert werden. In einem Blitzfernschreiben von SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich an Staatspolizei und Sicherheitsdienst hieß es, dass „die stattfindenden Demonstrationen von der Polizei nicht zu verhindern“ seien.
Jüdische Geschäfte und Wohnungen sollten zerstört, aber nicht geplündert werden. Von den 14 Berliner Synagogen brannten in dieser Nacht neun nieder, in ganz Deutschland und Österreich wurden über 1400 jüdische Einrichtungen zerstört, etwa 30.000 Juden in Konzentrationslager verschleppt. Die Nacht markierte den Übergang von der Diskriminierung und Ausgrenzung der Juden zu ihrer offenen und systematischen Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft ließ die Pogrome überwiegend tatenlos und ohne größere Anteilnahme geschehen.
Wilhelm Krützfeld aber bewies in dieser Nacht Mut und Zivilcourage wie wenige. Dabei ging es ihm und seinem Kollegen Otto Bellgardt wohl weniger um politischen Widerstand als um preußisches Pflichtbewusstsein im Interesse von Recht und Ordnung angesichts der Skrupellosigkeit eines totalitären Regimes. Der Schriftsteller und Chronist Heinz Knobloch hat ihm mit seinem Buch „Der beherzte Reviervorsteher“ ein Denkmal gesetzt. Krützfelds Verhalten blieb für ihn erstaunlicherweise ohne größere Folgen. Zwar bestellte ihn Polizeipräsident Wolf Heinrich Graf von Helldorf am nächsten Tag ein und herrschte ihn an, wie er es habe wagen können, den „gesunden Volkswillen behindert“ zu haben, wie Knobloch berichtet. Doch da er formal kein Dienstvergehen begangen hatte, erteilte Helldorf ihm nur eine Verwarnung und beließ ihn in seinem Amt.
Nach dem Krieg kam Wilhelm Krützfeld zurück nach Berlin – in den sowjetischen Sektor
Mit Kriegsbeginn verlor er aber seinen Posten im 16. Revier und wurde mehrfach versetzt, bis er 1943 mit 63 in den Ruhestand trat. Er zog sich in seine Heimat Schleswig-Holstein zurück, meldete sich aber nach 1945 zum Wiederaufbau der Polizei wieder in Berlin. Ab 1947 leitete er die Inspektion Mitte, die im sowjetischen Sektor lag. Er starb 1953 und wurde auf dem evangelischen Friedhof im Bezirk Weißensee bestattet. Während er zu Lebzeiten nie für seine mutige Tat gewürdigt wurde, erinnert seit 1988 eine Gedenktafel in der Oranienburger Straße an ihn, und 1992 widmete der Senat sein Grab zu einem Ehrengrab der Stadt Berlin um.
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Die Neue Synagoge wurde 1943 bei einem britischen Bombenangriff weitgehend zerstört; die Ost-Berliner Behörden ließen die Ruine viele Jahre verfallen, bis sie 1988 den Wiederaufbau beschlossen. Heute ist das Gebäude mit seiner prächtigen Kuppel vollkommen wiederhergestellt und dient als Centrum Judaicum der Pflege der jüdischen Kultur, wurde aber nicht wieder als Synagoge geweiht. Es gibt nur einen kleinen Andachtsraum. In der Nachbarschaft ist aber wieder ein jüdischer Campus mit Gemeindeeinrichtungen, Restaurants und einer Galerie entstanden. Das Gebäude steht wegen möglicher antisemitischer Übergriffe unter starkem Polizeischutz.