Berlin. Martin N. wurde wegen Mordes zu 10 Jahren Haft verurteilt. Über einen Mann, der die SED-Staatsdoktrin mit letzter Konsequenz ausführte.

Regungslos nimmt Martin N. sein Urteil entgegen, stehend, die Augen auf den Richter fixiert, die Hände ineinander verschlungen. Es ist kurz nach 11.30 Uhr im Sicherheitsaal 142, im Kellergeschoss des Berliner Landgerichts. Und soeben verliest der Vorsitzende Richter Bernd Miczajka den Schuldspruch gegen den früheren Stasi-Offizier, der noch nicht rechtskräftig ist: Eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren wegen Mordes, die Gerichtskosten hat er auch zu tragen. Düstere Worte für einen 80-jährigen Mann, der vor 50 Jahren im Auftrag des DDR-Geheimdienstes den 38-jährigen Polen Czesław Kukuczka nach Auffassung des Gerichts heimtückisch ermordet hat. Es sind aber auch Worte, die als ein Signal zu verstehen sind. Knapp 35 Jahre nach dem Untergang der SED-Diktatur klärt die Justiz noch immer Staatsverbrechen auf und zieht die Täter zur Rechenschaft.

Es dauert nur wenige Augenblicke, bis der Richter das Urteil verlesen hat. Martin N. hat sich für diesen Tag ein graues Sakko über seinen weinroten Rollkragenpullover gezogen. Als er sich setzt, legt er die Arme auf den Tisch und starrt weiter auf den Richter. Es wirkt fast so, als wolle er dem vollen Saal, wo Zuschauer beobachten und Journalisten schreiben, keine Mimik preisgeben. Seinen Kopf wird er in den kommenden eineinhalb Stunden nicht ein einziges Mal ins Publikum richten.

Der Aufstieg des Martin N.

Dann sieht er womöglich sein gesamtes Leben an sich vorbeiziehen. Miczajka spricht über den Werdegang von Martin N. Es ist die Geschichte eines Mannes, der innerhalb der DDR Karriere machte. Nach der Schule entschied sich Martin N., Maschinenbauer zu werden, im Jahr 1961 absolvierte er seinen Facharbeiterbrief. Zunächst war er Mitglied der Freien Deutsche Jugend, FDJ. Am 12. Februar 1961 trat er, auf eigenes Zutun hin, in die SED ein, war im Wachregiment und stieg dort später zum Unterfeldwebel auf. Drei Jahre später, am 1. Oktober 1965, wird er Feldwebel beim Ministerium für Staatssicherheit, MfS. Der Richter spricht davon, dass Martin N. alle Voraussetzungen dafür erfüllt habe, aktiv und sportlich, Judokämpfer.

Martin N. verfolgt die Erzählung interessiert, manchmal verschlingt er seine Hände ineinander, dann legt er sie wieder übereinander auf dem Tisch ab. Aufmerksam folgt er dem mündlichen Vortrag seines Lebenslaufs, der 1971 als Leutnant mit dem Spezialgebiet Passfälschung weitergeht, einem Umzug nach Berlin, einer weiteren Beförderung zum Oberleutnant und in einer Auszeichnung mündet, die für Männer seines Dienstgrades ungewöhnlich ist. Laut einem Schriftstück der Stasi wurde er für die Verhinderung eines Terrorakts mit dem „Kampforden in Bronze“ ausgezeichnet, der achthöchsten Auszeichnung in der ehemaligen DDR. Es ist aber auch das Dokument, das Martin N. auf die Anklagebank gebracht hat. Im Jahr 2016 lieferte das Stasi-Unterlagen-Archiv diesen entscheidenden Hinweis zur möglichen Identität des Schützen.

Ein Mann entscheidet sich für Freiheit

Martin N. war damals nach außen hin ein normaler Mitarbeiter des Grenzübergangs am Bahnhof Friedrichstraße. Doch wahrscheinlich nicht einmal seine Kollegen wussten davon, dass er auch Teil der Operativgruppe 1 des MfS war. Seine Aufgaben bestanden darin, Verdächtige, die flüchten wollen, zu suchen und auszuwählen. Unter anderem durch geschickte Gespräche sollte Martin N. Verdachtsmomente aufspüren und letztlich aus Sicht des SED-Regimes Gefahren abwehren, was auch die Abwehr von Terror mit einschloss. Zur letzten Konsequenz dieser Spezialkräfte zählten auch Liquidierungen, sagt Miczajka.

Im Saal wird es ganz still, als Miczajka den 29. März 1974 nennt, dem Tag als sich Czesław Kukuczka für die Freiheit entscheidet. Neben der Stimme des Richters, sind nur die Kugelschreiber zu hören, die heftig auf Papier kritzeln. An diesem Tag meldete sich Kukuczka gegen 12.30 Uhr beim Pförtner der polnischen Botschaft. Er trug eine schwarze Aktentasche, in der unter anderem ein Gullideckel war, um ein gewisses Gewicht zu symbolisieren. Daraus waren Drähte mit einer Art Druckknopf verbunden. Der 38-Jährige forderte bis 15 Uhr ungehindert auszureisen, ansonsten löse er diese und andere Bomben aus.

Im Hintergrund plante die SED, die Verhinderung der Ausreise

Vordergründig kam man seiner Forderung nach. Gegen 14.40 Uhr verließ er das Botschaftsgebäude und wurde zum Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße gebracht. Er durchlief die ersten beiden Grenzkontrollen, zuvor entledigte er sich auf der Toilette noch dem Hydrantendeckel. Im Hintergrund plante die Stasi die Ausreise mit allen Mitteln zu verhindern. „Es war nicht die Tat eines Einzelnen aus persönlichen Gründen, sondern von der Stasi geplant und gnadenlos ausgeführt“, sagt Miczajka. Der Angeklagte sei es gewesen, der „am Ende einer Befehlskette“ stand.

Am Ende zeigt Martin N. Gesicht

Gegen 15.15 Uhr betrat Kukuczka den Gang zur Freiheit. Zuvor begleiteten ihn Grenzsoldaten locker, überholten auch einige Menschen in der Schlange, passierten die dritte Grenzkontrolle. Dann waren es westdeutsche Schülerinnen einer 10. Klasse, die zufällig Zeuginnen der Tat wurden. Sie schilderten, wie ein in zivil gekleideter Mann hinter einer Sichtblende im Tränenpalast hervortrat: Martin N. Dann fiel der Schuss, von hinten, in den Rücken. Die Aktentasche fiel zu Boden, Kukuczka ebenfalls. Die Sichtblende wurde geschlossen und die ausreisenden Menschen umgeleitet. „Es war eine geplante und vorbereitete Choreografie“, sagt Miczajka.

Czesław Kukuczka habe sich in diesem Moment keiner Feindseligkeiten mehr versehen. „Er war so arglos, dass er sich nicht mehr wehren konnte“, sagt der Richter. „Er war dem Angeklagten wehrlos ausgeliefert“, der die Umsetzung der Staatsdoktrin der SED verfolgte. Das Gericht sieht darin, das vollendete Mordmerkmal der Heimtücke.

Nach eineinhalb Stunden schließt der Richter den Prozess gegen Martin N. Der zeigt in diesem Moment zum ersten Mal sein Gesicht. Keine Träne, kein Entsetzen, seelenruhig wendet er sich an seine Anwältin.