Berlin. Der Einsturz der Carolabrücke in Dresden zeigt: Deutschlands Infrastruktur ist in einem miserablen Zustand. Jetzt drohen Sperrungen.

Hunderte Schaulustige hatten sich am Donnerstagabend am Dresdener Elbufer eingefunden. Den ganzen Tag über war an den Überresten der am Mittwoch eingestürzten Carolabrücke gearbeitet worden. Bagger wurden aufgefahren, Sprengladungen installiert. Mit einem gewaltigen Knall begannen schließlich die Arbeiten, zunächst hielt die Brücke stand. Tief in der Nacht zu Freitag stürzte dann ein weiterer Teil mit der ehemaligen Tram-Trasse kontrolliert in die Elbe.

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Der Einsturz der Dresdener Brücke hat viele Menschen in Deutschland schockiert. Es war Glück im Unglück, dass niemand zu Schaden kam. Kein Einzelfall: Überall im Land sind Brücken kaputt, verrotten Schienenwege, verweigern 100 Jahre alte Schleusen den Dienst. Marode Infrastruktur ist weit mehr als ein Ärgernis. Sie bremst Mobilität aus, kostet die Wirtschaft Milliarden und ist im schlimmsten Fall gefährlich.

Brücken, Straßen & Co.: Gewaltiger Sanierungsstau besorgt Experten

„Der Zustand unserer Infrastruktur ist alarmierend“, sagt Tim-Oliver Müller, Hauptgeschäftsführer des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie (HDB), im Gespräch mit unserer Redaktion. Jede dritte kommunale Brücke müsse saniert oder ersatzweise neu gebaut werden. „Wir haben einen gewaltigen Sanierungsstau von 372 Milliarden Euro“, klagt Müller. Nicht viel besser sieht es bei Autobahnen und Bundesstraßen aus. Hier gelten rund 4000 Brücken als sanierungs- oder ersatzbedürftig. „Das sind etwa zehn Prozent aller Brücken an den Bundesfernstraßen“, erklärt Thomas Puls, Verkehrsökonom beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln).

Nach Einsturz in Dresden: Debatte um Zustand von Brücken

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    Wie konnte es so weit kommen? Insbesondere in Westdeutschland seien viele Autobahnen zwischen 1960 und 1980 gebaut worden, also seit rund 50 Jahren in Betrieb, erklärt Puls. „Als diese Autobahnen und insbesondere deren Brücken gebaut wurden, konnte sich niemand die heutigen Verkehrsmengen vorstellen.“ Hinzu komme: Heute dürfen Lkw zehn Tonnen schwerer sein als damals. „Und um die Sache abzurunden: Damals endete die Welt an der Zonengrenze. Heute laufen die großen Transportrouten weiter nach Osteuropa und auf den Balkan“, sagt Puls. Und dann sei zu wenig investiert worden.

    Infrastruktur: Auch auf der Schiene ist der Sanierungsstau beträchtlich

    Dabei braucht es mitunter gar nicht viel, um große Wirkung zu entfalten. Sensoren könnten zum Beispiel Porosität und Risse in Brückenpfeilern detektieren, sagt Bauindustrie-Verbandschef Müller. Der Beton meldet also selbstständig, wenn es ein Problem gibt. Mit dem Einbau würden Projekte aber um bis zu fünf Prozent teurer. Das spare man sich – und zahle „am Ende doppelt und dreifach“, moniert Müller. In Dresden zumindest hätte die Technik wohl entsprechend angeschlagen.

    Sanierungsstau auf der Schiene: Mit der in diesem Jahr gestarteten Generalsanierung geht die Deutsche Bahn Reparaturen grundsätzlich anders an als bislang.
    Sanierungsstau auf der Schiene: Mit der in diesem Jahr gestarteten Generalsanierung geht die Deutsche Bahn Reparaturen grundsätzlich anders an als bislang. © dpa | Arne Dedert

    Es sind jedoch nicht nur Brücken und Autobahnen, die bröckeln. Bei der Schieneninfrastruktur beläuft sich der Sanierungsstau auf 92 Milliarden Euro, hat der Bahn-Verband Allianz pro Schiene berechnet. Weil einige Strecken über Jahre hinweg vernachlässigt wurden, organisiert die Bahn Reparaturen seit diesem Jahr anders. Anstatt einzelne Schäden nach und nach zu reparieren, sollen die nötigen Bauarbeiten am Schienennetz auf bestimmten Abschnitten nun gebündelt erfolgen. Generalsanierung hat die Bahn das neue Konzept getauft.

    Wasserwege sind die nächste Schwachstelle: Schleusen aus der Kaiserzeit

    Völlig klar aber ist, dass sich auch so der über Jahrzehnte aufgebaute Investitionsstau nicht von heute auf morgen auflösen lässt. Im Rahmen der Generalsanierung sollen bis zum Jahr 2030 insgesamt 4000 Kilometer Gleise auf rund 40 Strecken in Deutschland generalsaniert werden. Begonnen wurde im Sommer mit der sogenannten Riedbahn zwischen Frankfurt am Main und Mannheim. Wissing verspricht sich schon davon einen Einfluss – auch auf die Pünktlichkeit vieler Fernzüge in Deutschland. Darüber hinaus vermisst die Wirtschaft aber auch für die Sanierung der Bahninfrastruktur langfristige Zusagen und hält die zeitliche Planung für zu ambitioniert.

    Während die Folgen der maroden Infrastruktur bei der Bahn und bei Straßen für jeden Verkehrsteilnehmer unmittelbar sichtbar sind, geht es bei den Wasserwegen um ganze Wirtschaftskreisläufe: „Viele unserer Schleusen kommen aus der Kaiserzeit“, sagt Bauindustrie-Verbandschef Müller.

    Havarien: Brücken über Wasserwegen zu klein für heutigen Schiffsverkehr

    Beispiel: Nord-Ostsee-Kanal. Die 100 Kilometer lange Verbindung ist die meistbefahrene künstliche Seeschifffahrtsstraße der Welt. Und sie ist in einem desaströsen Zustand. Über 100 Baustellen gibt es, um zu verhindern, dass Böschungen in den Kanal abrutschen. Die Arbeiten auf Europas größter Wasserbaustelle, der Schleuse in Brunsbüttel, verzögern sich seit Jahren. Ursprünglich sollte der Bau der 5. Schleusenkammer 2018 fertig sein, mittlerweile steht 2026 im Raum. Auf der anderen Seite, in Kiel, wird derweil die Große Schleuse saniert – nach über 100 Jahren in Betrieb. „Schleusen sind ähnliche Nadelöhre wie Brücken und ihre Sanierung ist kläglich unterfinanziert“, sagt Müller. Jede fünfte Schleuse in Deutschland ist älter als 120 Jahre.

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    Und auch hier kommt man schnell wieder zum Thema Brücken. Die sind nämlich vielfach zu klein für den heutigen Schiffsverkehr. Laut Bauindustrie kommt es alleine im westdeutschen Kanalnetz zu rund 80 Havarien pro Jahr, weil die Mindesthöhe von 5,25 Metern, die es für eine zweilagige Container-Ladung braucht, nicht eingehalten wird.

    Die Große Schleuse in Kiel-Holtenau wird derzeit saniert.
    Die Große Schleuse in Kiel-Holtenau wird derzeit saniert. © picture alliance / SULUPRESS.DE | Torsten Sukrow / SULUPRESS.DE

    Logistiker fordern ein Sondervermögen für Verkehrsinfrastruktur

    Wie könnte eine Lösung aussehen? Aus der Branche selbst werden Rufe nach mehr Geld laut. „Die Verkehrsinfrastruktur ist der Blutkreislauf einer funktionierenden Volkswirtschaft“, sagt Frank Huster, Hauptgeschäftsführer beim Bundesverband Spedition und Logistik. Durch Sperrungen und Stau werde das Logistikgeschäft immer schwieriger, in der Folge würden sich die Standortbedingungen verschlechtern. Um mehr finanzielle Spielräume zu schaffen, fordert Huster ein „Sondervermögen Verkehrsinfrastruktur“ – eine Idee, die auch in der Bauindustrie auf Zustimmung stößt. „Ein Sondervermögen für Investitionen in die Infrastruktur könnte einen großen Konjunkturimpuls auslösen. Jeder geförderte Euro im Bau löst private Folgeinvestitionen von 2,5 Euro aus“, sagt Müller.

    Volker Treier, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), mahnt mehr Geschwindigkeit an. So sei die 2018 in Genua eingestürzte Morandi-Brücke binnen zwei Jahren neu gebaut worden. Zum Vergleich: An der Rheinbrücke, die die A1 zwischen Leverkusen und Köln verbindet, wird seit 2017 gebaut. Seit Februar ist die Brücke wieder befahrbar, abgeschlossen sollen die Arbeiten aber erst mit dem Neubau der zweiten Brückenhälfte Ende 2027 sein. Immerhin, in Lüdenscheid soll der Bau der Rahmedetal-Brücke verkürzt werden. Allerdings von acht auf immer noch fünf Jahre Bauzeit.

    Die Sperrung der maroden Talbrücke Rahmede sorgt seit Monaten für überlastete Ausweichstrecken und Unmut bei Anwohnern und Pendlern.
    Die Sperrung der maroden Talbrücke Rahmede sorgt seit Monaten für überlastete Ausweichstrecken und Unmut bei Anwohnern und Pendlern. © picture alliance/dpa | Dieter Menne

    Lange Genehmigungsverfahren, nicht ausreichende Finanzierung, wenig Planungssicherheit – aus diesem Gemisch ergab sich laut Müller jüngst eine „völlig skurrile Situation“ angesichts des Zustands der Infrastruktur: „Im Sommer haben Bauunternehmen darüber nachgedacht, ihre Brückenbauer zu entlassen.“ Der Grund: Man war nicht ausreichend ausgelastet.