Berlin. In Deutschland ist es für arme Kinder schwer, einen höheren Bildungsabschluss zu bekommen. Zwei Aufsteigerinnen erzählen, wie sie es geschafft haben.
Das Herz raste, die Hände schwitzten. Das Mädchen Natalya hatte ihr Zeugnis der 9. Klasse Realschule in der Hand. Der Notendurchschnitt: 1,3. Natalya klopfte an die Bürotür des Direktors eines Gymnasiums im bayerischen Augsburg. „Ich würde gerne nach den Sommerferien von der Realschule aufs Gymnasium wechseln“, sagte sie. Ob er das bitte erlauben würde. Der Direktor blickte verwirrt, dann ablehnend. „Nein“, sagte er. „Wenn Sie auf ein Gymnasium gehörten, wären Sie auf einem.“
Diese Szene beschreibt Natalya Nepomnyashcha in ihrem Buch: „Wir von unten“. Es ist die Geschichte eines klugen und ehrgeizigen Mädchens, das herauswill aus dem Hartz-IV-Alltag ihrer Eltern. Und es auch schafft. Dem deutschen Bildungssystem, sagt sie, habe sie das allerdings nicht zu verdanken.
Arbeiterkinder auf dem Gymnasium? Lehrerin riet davon ab
Stanislava Schwalme wurde in Tschechien geboren. Als sie drei Jahre alt war, zog die Arbeiterfamilie nach Karlsruhe. Stanislava lernte Deutsch im Kindergarten, die Grundschulzeit verlief problemlos. Dennoch sollte sie eigentlich nicht aufs Gymnasium. Ihre Leistungen in der Grundschule waren gut, aber nicht spitze. Grund genug für ihre Lehrerin, dem Arbeiterkind vom Gymnasium abzuraten.
„Das kriegst du schon hin“, habe ihre Mutter gesagt und sich über die Empfehlung hinweggesetzt. „Das hat für einen gewissen Widerwillen bei der Lehrerin gesorgt“, erinnert sich Stanislava Schwalme. Inzwischen hat die 28-Jährige einen Master in Soziologie in der Tasche, arbeitet im Bildungsmanagement und berät ehrenamtlich für die Platform Arbeiterkind.de junge Menschen aus wirtschaftlich schwachen Familien.
Kinder aus armen Familien werden immer noch schlecht gefördert
Die beiden jungen Frauen sind sogenannte Bildungsaufsteiger. Über ihre Familien, die Jobs und die Arbeitslosigkeit ihrer Eltern wollen sie nicht viel erzählen, aber über ihren Werdegang. Und der bestätigt, was Deutschland seit Jahrzehnten vorgeworfen wird: Kinder aus armen und/oder bildungsfernen Familien haben es im Vergleich zu anderen Ländern besonders schwer, einen höheren Schulabschluss oder gar eine akademische Laufbahn zu schaffen.
Beide setzen sich heute neben ihrem Job für mehr Chancengleichheit im Bildungswesen ein und unterstützen junge Menschen. Und schließen eine Lücke, die das Elternhaus nicht füllen kann. Im Gespräch mit dieser Redaktion erklären sie, warum der Weg nach oben trotz Intelligenz, Willenskraft und Disziplin so schwer ist – und ohne Mut gar nichts geht.
Auch interessant
Migrationshintergrund als Hemmnis in der Schullaufbahn
Die gebürtige Ukrainerin Natalya Nepomnyashcha kam 2001 als sogenannter jüdischer Kontingentflüchtling mit ihren Eltern nach Deutschland. Sie war damals elf Jahre alt und aus ihrer Heimatstadt Kiew gute Noten gewohnt. Wie die meisten Flüchtlingskinder startete sie in einer Übergangsklasse der Hauptschule in Augsburg. Eines Tages wurde sie unangemeldet getestet. „Weil ich bestimmte Zeiten im Englischen oder Formeln in der Mathematik noch nicht konnte, habe ich eine Realschulempfehlung bekommen.“
Für das Mädchen war es ein Schlag. Natalya strengte sich in den kommenden Jahren an, ihre guten Noten fielen auf, sie bekam ein Stipendium für begabte Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. Dadurch lernte sie erstmals Gymnasiasten kennen. „Ich stellte fest, dass einige von ihnen schlechter waren als ich in Englisch oder in Mathe. Und da dachte ich: Hey, die dürfen Abi machen und ich nicht? Warum ist das so?“ Schließlich seien Arztkinder dabei gewesen. „Einer hatte eine Mutter, die Chefärztin war. Die hatten schlechtere Noten als ich – und waren auf dem Gymnasium!“
Und so nahm der Teenager Natalya allen Mut zusammenfasste, um den Schulleiter direkt selbst zu bitten, sie auf dem Gymnasium aufzunehmen. Vergeblich. Es folgte eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin, die mit 200 Euro Bafög gefordert wurde. Leben konnte Nepomnyashcha, die für die Ausbildung von Augsburg nach München zog, davon nicht. Also jobbte sie nebenher im Kino. Ihre Eltern lebten weiter in einem Augsburger Brennpunkt von Hartz IV.
Nach dem Abschluss startete Nepomnyashcha eine weitere Ausbildung zur Übersetzerin und Dolmetscherin am Fremdspracheninstitut München. Der Abschluss des Instituts ermöglicht es den Absolventen, ein Masterstudium im Ausland aufzunehmen. Natalya Nepomnyashcha entschied sich für die Universität der englischen Arbeiterstadt Preston. Zwar hatte auch ihre Bewerbung in London Erfolg, doch das Leben in der Metropole hätte sie sich wohl nicht leisten können.
Geld: Die Finanzierung des Studiums ist die größte Hürde für Arbeiterkiner
Reicht das Geld? Das ist für Aufsteiger-Kinder die Hauptfrage, wenn es darum geht, ein Studium aufzunehmen. Für Stanislava Schwalme war die Frage der Finanzierung die größte Hürde nach dem Abitur. „Mir war unklar, wie ich ein Studium finanziell stemmen sollte“, sagt sie. „Noch bevor es irgendwelche Förderungen gibt, ob Bafög oder Stipendien, müssen die Semestergebühren bewältigt werden, das Semesterticket, der Laptop, das Smartphone.“ Hinzu komme der Umzug samt Kaution für die Wohnung. Stanislava Schwalme entschied sich, mit dem Studium zu warten – und Geld zu verdienen. In der Gastronomie, in einer Tankstelle, im Einzelhandel. Ihr Polster für den Studienstart.
Dieser Zwang zu reinen Geldverdiener-Jobs, während Kinder aus Akademiker-Familien mit unbezahlten Praktika, Auslandsreisen und Schnupper-Studien ihren Horizont erweitern: Das sei einer der Gründe, warum Aufsteigerkinder selbst mit einem Studium so oft einen schwierigen Berufsstart haben. „Es wird erwartet, dass Bewerberinnen und Bewerber Praktika absolviert und stringent ihr Studium durchgezogen haben. Doch wer arbeiten muss und ‚von unten‘ kommt, finanziert sich das Studium eher durch einen Job bei McDonalds. Für ein schlecht oder gar nicht bezahltes Praktikum ist da keine Zeit“.
Nepomnyashcha spricht aus Erfahrung. Sie war 22, als sie mit zwei Ausbildungen und einem Master-Abschluss in Berlin auf Jobsuche ging. „Ich bekam eine Absage nach der anderen“, erzählt sie. „Mein Lebenslauf war sehr ungerade und ich hatte kein einziges relevantes Praktikum absolviert. Wie denn auch, wenn ich vorher zwei schulische Ausbildungen in Vollzeit gemacht habe?“
Erfahrung als Arbeiterkind: Jetzt will Nepomnyashcha Aufsteiger fördern
Erst über einen Job bei einer Nichtregierungsorganisation (NGO) kam sie zu EY. Inzwischen arbeitet die 34-Jährige dort als Assistant Director. Sie ist verantwortlich für Kooperationen mit Stiftungen, NGOs und ThinkTanks. Zwischendurch gründete sie auch noch die gemeinnützige Organisation „Netzwerk Chancen“, die zum Ziel hat, soziale Aufsteigerinnen und Aufsteiger zu fördern und soziale Herkunft als Diversitätsfaktor bekannt zu machen – und sie schrieb das Buch „Wir von unten“, indem sie mit vielen persönlichen Beispielen beschreibt, wie die soziale Herkunft über Karrierechancen entscheidet.
Inzwischen wird „Netzwerk Chancen“ von einer Stiftung unterstützt. Zwei Vollzeitstellen und viele Ehrenamtliche arbeiten für die Organisation, die 2600 junge Aufsteigerinnen und Aufsteiger zwischen 18 und 39 berät. Natalya Nepomnyashcha könnte sich zurückziehen. Zumal die Mutter eines kleinen Kindes nach sechs Monaten Elternzeit wieder Vollzeit bei EY arbeitet. Sie könnte durchaus sagen: Es läuft doch gut für mich. Kleine Familie, sicherer, gut bezahlter Job, schöne Wohnung.
Und doch ist da immer noch die Wut in ihr. Dieses Gefühl der Ohnmacht, das sie als Kind spürte, das vor dem Direktor stand. Die Wut auf Lehrerinnen und Lehrer, die den Mut von Kindern, die lernen wollen, platzen lassen wie einen Luftballon. Auf Recruiter, die bei Berufsanfängern nur auf Praktika schauen, auf das schnelle Studium, die guten Noten. Und Arbeitgeber, die Bewerberinnen und Bewerber nach ihrer Peer-Group aussuchen, statt die außergewöhnliche Leistung der Aufsteiger zu würdigen. Kurz: Sie ist wütend auf die Diskriminierung, die soziale Aufsteiger erfahren. Und so bleibt die Gründerin als Vorkämpferin für Chancengleichheit der Organisation erhalten, sie kämpft als Aktivistin auf den sozialen Netzwerken für Bildungsaufstieg und soziale Diversität.
Es besser haben als die Eltern: Das war für Stanislava Schwalme der große Antrieb. „Ich hatte eine negative Vorstellung von Ausbildungsberufen“, sagt sie. Sie habe damit wenig Geld und viel körperliche Arbeit verbunden, die schlecht für die Gesundheit ist. Sie gibt sie zu, dass diese Sicht einseitig ist, dass auch eine Berufsausbildung ein sicheres und gutes Leben ermöglichen kann. „Aber ich wollte mit meinen Freunden mithalten. Das war mir tatsächlich wichtig“.
Heute lebe sie anders als ihre Familie. „Im Verglich zu ihnen habe ich mehr Privilegien und die genieße ich auch.“ So habe sie mit ihrem Partner schnell eine schöne Wohnung gefunden. Sie habe viele Jobmöglichkeiten und könne Freizeitangebote nutzen. „Ich habe einfach mehr Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.“
„Wir von unten“ – schreibt Natalya Nepomnyashcha in ihrem Buch, „dieses Gefühl geht niemals weg“. Für Stanislava Schwalme ist das Gefühl ihr Antrieb. „Es geht um Mut im Studium, Mut, ins Erasmus-Programm zu gehen, Mut, alle Möglichkeiten zu nutzen. Man geht sehr gestärkt aus dieser Lebensphase heraus.“ Und dann, sagt sie, wenn das Studium fertig sei, „dann ist die Augenhöhe da, man hat es vollbracht. Die Frage ist, wie man sich dann selbst sieht.“