Tel Aviv. Israelische Soldaten berichten, dass palästinensische Zivilisten uniformiert in verminte Häuser geschickt würden. Ein Kriegsverbrechen.

Nadav Weiman weiß, wie grausam der Krieg im Gazastreifen sein kann. Vor 14 Jahren war er selbst als Scharfschütze einer Spezialeinheit eingesetzt. Bei den sechswöchigen Kämpfen starben damals über 2000 Palästinenser. Der aktuelle Gazakonflikt dauert jetzt schon zehn Monate. Die Opferzahlen sind erheblich höher, und Weiman ist empört darüber, wie die israelischen Streitkräfte in diesem Krieg mancherorts vorgehen. Es sei in einigen Einheiten gängige Praxis, palästinensische Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen.

„Das ist völlig inakzeptabel“, sagt der Direktor der Organisation „Breaking the Silence“, die Einsatzberichte kritischer Soldaten sammelt. Dabei gehen die israelischen Streitkräfte laut Weiman immer nach dem gleichen Muster vor. Über den Dörfern und Städten, in die das Militär einrücken wolle, würden Flugblätter abgeworfen, mit denen die Zivilbevölkerung vor den Kämpfen gewarnt und zur Flucht in ausgewiesene Evakuierungszonen aufgerufen wird. Doch nicht alle gehen. Manche, weil sie zu alt, zu gebrechlich oder behindert seien – andere, weil sie nach den monatelangen Kämpfen einfach müde seien.

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Den israelischen Soldaten werde jedoch vor den Militäreinsätzen gesagt, dass alle in den Kampfzonen verbliebenen Menschen Mitglieder der Hamas oder des Islamischen Dschihad oder mit diesen Gruppen verbündet seien. „Der Befehl, den sie bekommen, ist, jeden Mann im wehrfähigen Alter zu töten“, berichtet Weiman. „Die Einsatzregeln sagen, dass nicht auf Frauen oder Kinder geschossen werden darf. Wir schießen aber auch auf Frauen und Kinder.“

Das gängige Vorgehen ist laut Weiman: Die Luftwaffe oder die Artillerie bombardiere dann Gebäude, walzten die gewaltigen D9-Planierrraupen Hindernisse nieder – bevor schließlich die Infanterie geschützt von Panzern vorrücke. „Wir nutzen exzessive Feuerkraft, um die eigenen Verluste zu minimieren“, berichtet Weiman. Das sei die gängige Militärdoktrin. „Natürlich will ich nicht, dass israelische Soldaten sterben. Aber die Frage ist, zu welchem Preis. Ich bin nicht damit einverstanden, dass dafür die Zivilisten leiden.“

Israel: Armeeführung weiß angeblich vom Vorgehen der Soldaten

Nach Ansicht von Nadav Weiman maximieren das rücksichtslose Vorgehen des Militärs, aber auch eklatante Verstöße gegen internationales Recht das Leid der Zivilbevölkerung. Seine Organisation „Breaking the Silence“ („das Schweigen brechen“) wurde vor 20 Jahren von aktiven und ehemaligen Soldaten der israelischen Streitkräfte gegründet. Die Organisation kritisiert vehement das Vorgehen des Militärs im besetzten Westjordanland und im Gazastreifen, wird aber ihrerseits von vielen Israelis beschuldigt, das Ansehen der Streitkräfte zu beschmutzen.

Die Zerstörung nach zehn Monaten Krieg ist im Gazastreifen vielerorts massiv. Doch Kritik aus den eigenen Reihen hört die Militärführung nicht gern.
Die Zerstörung nach zehn Monaten Krieg ist im Gazastreifen vielerorts massiv. Doch Kritik aus den eigenen Reihen hört die Militärführung nicht gern. © AFP | -

Dass manche der eingesetzten Einheiten palästinensische Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbrauchen sollen, hatte jüngst die israelische Zeitung „Haaretz“ berichtet und sich dabei auf Aussagen von Soldaten und Offizieren berufen, die in Gaza im Einsatz waren. Demnach geschieht das mit Duldung oder gar auf Anweisung von Vorgesetzten und sei der Armeeführung bekannt. In Beratungen und Strategiesitzungen hätten mehrere Offiziere immer wieder gefordert, die Praxis sofort abzustellen und vor den Folgen für das Funktionieren der Armee und vor juristischen Konsequenzen gewarnt.

Doch Soldaten, die das Vorgehen infrage gestellt hätten, sei laut Weiman gesagt worden: „Was willst du lieber – dass du durch eine Sprengfalle stirbst oder ein Palästinenser?“ Als besonders verstörend hätten es Soldaten empfunden, dass die meisten der Zivilisten, die als Schutzschilde missbraucht worden seien, nach einigen Tagen wieder zu ihren Familien zurückgebracht wurden. „Da haben unsere Zeugen verstanden, dass diese Leute nicht einmal verdächtig waren, der Hamas anzugehören. Dass sie zu ihren Familien zurückgebracht wurden, bedeutet, dass sie unschuldig sind.“

Werden Palästinenser in Uniformen in verminte Gebäude geschickt?

Die Zivilisten sollen in israelische Uniformen gesteckt und in Tunnel oder Häuser vorgeschickt worden sein, in denen Sprengfallen vermutet werden. Weiman kennt die Berichte der Soldaten: „Das ist etwas, was wir schon von Beginn des Krieges an gehört haben.“ Anfangs habe er gedacht, bei diesen Vorfällen handele es sich um einzelne Entscheidungen besonders rechtsgerichteter Offiziere. „Aber dann haben immer mehr Soldaten aus unterschiedlichen Einheiten von unterschiedlichen Orten im Gazastreifen darüber berichtet. Es scheint eine sehr verbreitete Praxis zu sein.“

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Die israelischen Streitkräfte reagierten auf eine umfangreiche Anfrage unserer Redaktion mit einer kurzen Stellungnahme: Die Befehle und Richtlinien der IDF verböten „die Verwendung von im Feld gefangenen Zivilisten aus dem Gazastreifen für militärische Einsätze, die sie gefährden“. Dies sei den Truppen vor Ort klar gemacht worden. Die im „Haaretz“-Bericht und von „Breaking the Silence“ aufgestellten Behauptungen seien zur Prüfung an die zuständigen Behörden weitergeleitet worden.

Weiman über Israels Kriegsführung: „Wir schießen auf Frauen und Kinder“

Unbestreitbar ist, dass die Hamas und die anderen bewaffneten Gruppierungen häufig aus ziviler Infrastruktur heraus operieren. Auf Videos, die von der Hamas nahen Kanälen veröffentlicht werden, ist das klar zu erkennen – und auch, dass die meisten Kämpfer keine Uniformen tragen. Unbestreitbar ist aber auch, dass die Zivilbevölkerung im Gazastreifen erheblich unter den massiven Bombardierungen und dem Mangel an Nahrung, Wasser und Medikamenten leidet.

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Israel unter Beschuss: Hisbollahs Feuerlinie

Im Krisenmodus

Für Weiman, der bei dem Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres selbst Freunde verloren hat, ist der Gazakonflikt militärisch nicht lösbar. „Es ist ein politisches Problem, für das es politische Lösungen braucht“, sagt er. „Man muss miteinander sprechen.“

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