Jerewan/Berlin. Seit Jahrzehnten gibt es Streit um die Grenzziehung. Zuletzt trat Armenien Gebiete ab. Bewohner der Grenzregion fürchten das Schlimmste.

Kurvenreich schlängelt sich die Straße nach Kirants im äußersten Nordosten Armeniens. An einem heißen Juli-Nachmittag sitzt Gohar Vardanjan unter einem schattenspendenden Baum und erzählt, was sich seit April in Kirants verändert hat. Damals rückte die aserbaidschanische Grenze ganz dicht an den Ort heran. Das Dorf verlor 15 Hektar Land an die andere Seite, nachdem die Regierungen in Jerewan und Baku die Grenze rund um Kirants neu festgelegt hatten.

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„Das Leben hier wird nie mehr so sein wie zuvor“, sprudelt es aus Vardanjan heraus. Vielleicht weiß niemand besser als sie, was der Verlust ihres Landes für die Menschen in Kirants bedeutet. Die junge Frau arbeitet in der Verwaltung des Ortes, ist zuständig für Steuern und Finanzen und hat Einblick in das Kataster, in dem die Lage der Grundstücke verzeichnet ist. Im Gespräch wirkt die 27-Jährige müde und aufgekratzt zugleich, manchmal unterbricht ein nervöses Lachen ihren Redeschwall. Die Übersetzerin kommt trotzdem kaum hinterher.

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Armenien und Aserbaidschan: Vor allem die Region Bergkarabach ist ein steter Zankapfel zwischen beiden Ländern. © BM Infografik | Babette Ackermann-Reiche

Armenien: Bürger protestieren gegen Gebietsverlust

Im April übergab die armenische Regierung von Ministerpräsident Nikol Paschinjan ein fast sieben Quadratkilometer großes Gebiet an Aserbaidschan. In der Folge kam es zu massiven Protesten, nicht nur in der Region, sondern auch in der Hauptstadt Jerewan, wo sich tausende Menschen versammelten und lautstark ihrem Unmut über die Regierung Luft machten. Paschinjan sei zu nachgiebig und erfülle nach der Niederlage im Konflikt um Bergkarabach im vergangenen Jahr zu viele Forderungen Aserbaidschans, glauben viele Armenier.

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Die stillen Helden im Krieg

Im Krisenmodus

Die Menschen in Kirants empfänden ein Gefühl großer Ungerechtigkeit, sagt Gohar Vardanjan, als ein mittelalter Mann vorbeikommt und ihr etwas zuruft. „Erzähl ihnen, wie Paschinjan unser Land weggegeben hat“, wird uns sein Einwurf übersetzt. Vardanjan lacht nervös und berichtet weiter – von einem Nachbarn, der schwer krank geworden sei, als sein Teil seines Landes an die andere Seite ging, von Bauern, die ihr Vieh verkaufen mussten, weil sie auf einmal keine Weideflächen mehr hatten. 

Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan gab Gebiete an Aserbaidschan zurück und steht seitdem innenpolitisch unter noch größerem Druck.
Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan gab Gebiete an Aserbaidschan zurück und steht seitdem innenpolitisch unter noch größerem Druck. © AFP (archiv) | KAREN MINASYAN

Schule in Armenien: Eine Mauer soll die Kinder schützen – doch Eltern zögern

Aktueller Aufreger in Kirants ist das neue Schulgebäude. Nach der neuen Grenzziehung beginnt direkt dahinter Aserbaidschan. Eltern sind besorgt, dass ihre Kinder ins Visier des aserbaidschanischen Militärs geraten könnten, weshalb zur Grenzseite eine etwa drei Meter hohe Mauer hochgezogen wurde, was der Schule nun eine gefängnisartige Anmutung verleiht. Ob die Sorge vor Attacken berechtigt ist, bleibt unklar. Im September soll der Unterricht beginnen, viele Eltern zögerten, ob sie ihre Kinder in die neue Schule schicken sollen, berichtet Vardanjan. Sie ist überzeugt: Ein Ort ohne Schule habe keine Zukunft, sei zum Sterben verurteilt.

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Die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan sind seit Jahrzehnten verfeindet, in der Vergangenheit kam es wiederholt zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Auch nach der endgültigen Eroberung der armenischen Exklave Bergkarabach durch aserbaidschanische Truppen und der Vertreibung der armenischen Bevölkerung im September 2023 halten die Spannungen an. Immer wieder kommt es zu Scharmützeln mit Verletzten und Toten auf beiden Seiten. Die Friedensverhandlungen gerieten wiederholt ins Stocken.

Die neue Schule in Kirants liegt direkt an der Grenze. Eine Mauer (im  Hintergrund) soll die Schüler schützen.
Die neue Schule in Kirants liegt direkt an der Grenze. Eine Mauer (im Hintergrund) soll die Schüler schützen. © Tobias Köberlein | Tobias Köberlein

Armenien und Aserbaidschan: Erbitterter Streit um exakten Verlauf der Grenze

Armenien und Aserbaidschan streiten erbittert über den exakten Verlauf der etwa 1000 Kilometer langen Grenze zwischen den beiden Ländern. Zur genauen Bestimmung – denn für beide ist offenbar jeder Meter wichtig – werden Militärkarten aus der Sowjetzeit herangezogen. Die für Kirants maßgebliche stammt aus dem Jahr 1976. Trotzdem kommen beide Seiten oft nicht zu einer Einigung, weil Aserbaidschan plötzlich eine Neubemessung verlangt.

Etwa 180 Kilometer weiter südlich von Kirants, in Sotk, weiß Ortsvorsteher Sevak Khachatrjan aus eigener Erfahrung, wie schnell der Konflikt zwischen den verfeindeten Ländern für die Zivilbevölkerung lebensgefährlich werden kann. Der Ort grenzt an die Region Kelbajar, die Armenien 2020 an Aserbaidschan zurückgeben musste. Aserbaidschanische Truppenverbände besetzten in der Folge die strategisch wichtigen Hügel östlich von Sotk.

In der Nacht vom 13. auf den 14. September 2022 saß Khatchatrjan vor dem Fernseher, als er auf einmal Artilleriefeuer hörte. Hunderte Geschosse regneten auf den Ort herab. Die Aserbaidschaner hätten zuerst die Brücken und die Infrastruktur angegriffen, berichtet Khachatrjan. Er steht vor dem Gebäude der Ortsverwaltung, die Wand ist mit Einschusslöchern übersät. Dutzende Häuser seien von Granaten getroffen worden. Mittlerweile habe man die meisten wieder instandgesetzt und mit roten Metalldächern versehen.

Gohar Vardnjan aus dem Dorf Kirants direkt an der Grenze zu Aserbaidschan.
Gohar Vardnjan aus dem Dorf Kirants direkt an der Grenze zu Aserbaidschan. © Tobias Köberlein | Tobias Köberlein

Sorge an der Grenze zu Aserbaidschan: Könnten Soldaten die Dörfer überhaupt schützen?

Der Angriff hat Spuren bei den Menschen in Sotk hinterlassen. Die Angst vor weiteren Attacken ist geblieben, die Stellungen der Aserbaidschaner lassen sich als dunkle Punkte auf den Hügeln gut ausmachen. Beim Besuch der Journalisten holpert ein armenisches Militärfahrzeug durch den Ort. Fotografieren verboten. Ortsvorsteher Khatchtrjan macht sich keine Illusionen. Er bezweifelt, dass die Soldaten Sotk im Ernstfall schützen könnten. Um die Bewohner einzuschüchtern, hätten die Aserbaidschaner auch schon nachts mit Suchscheinwerfern ins Dorf hineingeleuchtet. „Die Menschen hier wollen Frieden, aber nicht um den Preis, ihr Land zu verlieren“, sagt er.

Sevak Khachatrjan, Ortsvorsteher von Sotk, saß vor dem Fernseher, als aserbaidschanisches Militär mit dem Beschuss seines Dorfes begann.
Sevak Khachatrjan, Ortsvorsteher von Sotk, saß vor dem Fernseher, als aserbaidschanisches Militär mit dem Beschuss seines Dorfes begann. © Tobias Köberlein | Tobias Köberlein

Genau darauf könnte es bei den Verhandlungen zwischen Armenien und dem von Präsident Ilham Alijew autoritär geführten Aserbaidschan aber möglicherweise hinauslaufen. Die Machtverhältnisse haben sich in den vergangenen Jahren zugunsten Aserbaidschans verschoben. Von der einstigen Schutzmacht Russland fühlen sich viele Armenier verraten, seit russische „Friedenstruppen“ der vollständigen Eroberung Bergkarabachs durch Aserbaidschan tatenlos zusahen. Die Regierung von Nikol Paschinjan wendet sich daher verstärkt anderen Partnern zu, kaufte zuletzt Rüstungsgüter in Frankreich und Indien. Im Juli absolvierten armenische Truppen gemeinsam mit dem US-Militär die Übung „Eagle Partner“.

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Das rohstoffreiche Aserbaidschan, das militärisch vor allem von der Türkei, aber auch von Israel unterstützt wird, bleibt trotzdem in der deutlich stärkeren Position, sowohl militärisch als auch ökonomisch. Sargis Khandanjan, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im armenischen Parlament, wirkt im Gespräch mit deutschen Journalisten ernüchtert. „Wir versuchen, ein Friedensabkommen zu erreichen, sehen aber, dass Aserbaidschan immer neue Forderungen stellt“, sagt Khandanjan.

Karabach-Konflikt
Nach dem aserbaidschanischen Angriff im September 2023 flohen über 120.000 Menschen aus Bergkarabach nach Armenien. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Konflikt hält an: „Jede Nacht Angst, dass sie uns beschießen“

Hardliner wie Arman Tatojan, von 2016 bis 2022 Ombudsmann für Menschenrechte in Armenien, sprechen der Gegenseite den Willen zu einer friedlichen Lösung generell ab. Aserbaidschan wolle gar kein Friedensabkommen mit Armenien unterzeichnen, erklärt Tatojan im Gespräch mit deutschen Journalisten. Das „anti-armenische Ressentiment“ sei das Herz der aserbaidschanischen Politik, meint er. Dazu zeigt Tatojan Fotos von mutmaßlichen Gräueltaten aserbaidschanischer Soldaten an der armenischen Zivilbevölkerung in Bergkarabach. Die Übergriffe von armenischer Seite, die es laut Aserbaidschan in der Vergangenheit ebenfalls gegeben haben soll, spart er aus.

Schwer zu sagen, wie viele Menschen in Armenien so denken wie Tatoyan. In Kirants jedenfalls sehnen sich die meisten Menschen trotz der schmerzlichen Gebietsverluste nach einem stabilen Frieden. Vor ein paar Wochen war Gohar Vardanjan in Jerewan. Um nicht ständig an die Situation in ihrem Heimatdorf denken zu müssen, habe sie begonnen, einen Roman zu lesen. Sie kam bis Seite 50. „Als ich wieder in Kirants war, konnte ich einfach nicht mehr weiterlesen“, erzählt Vardanjan. Von ihrem Zuhause schaue sie auf die andere Seite der Grenze. Sie könne die Stellungen der Aserbaidschaner sehen, sagt sie. Tagsüber sei das kein Problem. Doch wenn es dunkel werde, beginne das Gedankenkarussell. „Jede Nacht habe ich Angst, dass sie uns beschießen.“

Die Recherche zu diesem Text wurde unterstützt von der Friedrich-Ebert-Stiftung.