Berlin. Zehntausende Kinder sind nach Russland verschleppt und dort einer Gehirnwäsche unterzogen worden – zurück kommen gebrochene Seelen.

Am Schwarzen Brett eines Gebäudes im ukrainischen Yakovenkove entdecken wir im September 2022 ein Schreiben der russischen Besatzungsverwaltung, die wenige Tage zuvor das kleine Dorf südöstlich von Charkiw fluchtartig verlassen hat. Es ist eine Einladung. Eltern könnten ihre Kinder zwischen 9 und 16 Jahren zur Erholung in „Gesundheitslager“ in die über 800 Kilometer entfernte russische Region Krasnodar schicken. Eine Einladung, die auf eines der dunkelsten Kapitel des Krieges hinweist: Die von Russland erzwungene Trennung ukrainischer Kinder von ihren Eltern.

Wenn Regierungschefs aus aller Welt am Wochenende in der Schweiz über den Weg zum Frieden in der Ukraine beraten, werden sie auch über dieses Thema sprechen: Etwa 20.000 ukrainische Kinder und Jugendliche sollen derzeit ohne Kontakt zu ihren Eltern in Russland oder auf der Krim festgehalten werden, schätzen ukrainische Behörden und Hilfsorganisationen. Und das sind nur diejenigen Minderjährigen, die in Datenbanken erfasst wurden.

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Die tatsächliche Zahl könnte wesentlich höher liegen, sagt Keseniia Pryzihlei, Sprecherin von „Save Ukraine“, einer Organisation, die sich um die Rückführung der Kinder bemüht. Nur ein Beispiel: „Bis heute ist nicht bekannt, wie viele Menschen in Mariupol starben oder entführt wurden.“ Mariupol ist die Großstadt am Asowschen Meer, die in den Anfangsmonaten des Krieges in heftigen Kämpfen zerstört und schließlich von den Russen eingenommen wurde.

Aus zwei Wochen Erholungscamp werden sechs Monate Horror

Die Verschleppung der Kinder ist nach ukrainischen Angaben immer einem ähnlichen Muster gefolgt: In den besetzten Gebieten forderte die Besatzungsverwaltung Eltern dazu auf, ihre Kinder zur Erholung in Camps auf die Krim oder Russland zu schicken. Dieser Aufforderung folgten viele Eltern – und nicht immer freiwillig, betont Myroslava Kharchenko, Chefjuristin bei „Save Ukraine“. Die Menschen hätten isoliert vom Rest des Landes gelebt. Sie hätten gesehen, wie brutal die russischen Besatzer vorgingen und seien verängstigt gewesen.

Insgesamt sollen nur 388 von etwa 20.000 Kindern in die Ukraine zurückkehrt sein.
Insgesamt sollen nur 388 von etwa 20.000 Kindern in die Ukraine zurückkehrt sein. © REUTERS | VALENTYN OGIRENKO

„Wenn zum Beispiel der Leiter des Sozialdienstes in Begleitung eines Militäroffiziers zu dir kommt, und dir sagt, du sollst dein Kind zur Rehabilitation geben, dann weißt du, was passiert, wenn du nein sagst“, so Kharchenko weiter. Zudem seien die Eltern belogen worden. Wenn sie schriftlich eingewilligt hätten, ihre Kinder für zwei Wochen in russische Obhut zu geben, sei ihnen immer gesagt worden, der Erholungsurlaub dauere zwei oder drei Wochen. Tatsächlich aber seien viele Kinder schon seit vielen Monaten verschwunden.

Diese Aussagen decken sich mit unseren Recherchen. Wir Funke-Reporter haben im Februar dieses Jahres im Cherson im Süden der Ukraine eine Mutter getroffen, die ihren Sohn erst nach sechs Monaten wieder in die Arme schließen konnte. Dieser Junge ist eines der wenigen Kinder, die wieder nach Hause zurückkehren konnten. „Save Ukraine“ hat bislang die Rückkehr von 373 Kindern unterstützen können, insgesamt sollen 388 zurückkehrt sein.

Russland: Verschleppte Kinder werden Gehirnwäsche unterzogen

Russland soll außerdem in den ersten Monaten nach der Invasion Tausende Kinder aus ukrainischen Waisenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Internaten verschleppt haben. Dieses Vorgehen wird vom Internationalen Strafgerichtshof als mögliches Kriegsverbrechen eingestuft. Die Den Haager Richter haben deswegen im März vergangenen Jahres einen Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin und Maria Lwowa-Belova, die russische Beauftragte für Kinderrechte erlassen. Der Vorwurf: Sie seien persönlich verantwortlich für Verschleppung von ukrainischen Kindern nach Russland.

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    Im Mai 2022 hatte Putin ein Dekret unterzeichnet, das die Einbürgerung ukrainischer Waisenkinder erleichtert – und damit die Adoption solcher Kinder. Die Adoption ukrainischer Kinder scheint gängige Praxis zu sein. Journalisten der „Financial Times“ haben erst kürzlich auf einer mit der russischen Regierung verbundenen Adoptionswebsite vier ukrainische Kinder zwischen acht und 15 Jahren identifiziert, die in den Monaten nach der Invasion nach Russland gebracht worden waren. Eines der Kinder habe einen neuen, russischen Namen bekommen, bei keinem sei die ukrainische Herkunft genannt worden.

    Kharchenko wirft den russischen Behörden vor, die festgehaltenen Kinder einer Gehirnwäsche zu unterziehen. „Sie erzählen Lügen über die Ukraine“, sagt sie. „Dass wir ein gescheiterter Staat und Nazis sind, dass wir Kinder bei lebendigem Leib essen.“ In den Camps werde ihnen eingetrichtert, dass ihre Eltern sie nicht wiederhaben wollten, aber Russland sich um sie kümmere. „Sie sollen die Ukraine hassen und Russland lieben.“ Manche der zurückgeholten Kinder seien überzeugt gewesen, dass die Ukraine nicht mehr existiere oder voller Angst davor, dass der ukrainische Geheimdienst sie foltern werde.

    Scholz: „Putin darf diese Kinder nicht länger als Geiseln nehmen“

    Beim Friedensgipfel in der Schweiz wird das Thema politisch hoch aufgehängt. Der kanadische Premier Justin Trudeau hatte jüngst deutlich gemacht: „Wir müssen erhebliche Anstrengungen unternehmen, damit diese Kinder sicher nach Hause zurückkehren können.“ Kanada führt die „Internationale Koalition für die Rückkehr ukrainischer Kinder“ an, in der sich 37 Länder zusammengeschlossen haben – darunter auch Deutschland.

    Bundeskanzler Olaf Scholz fordert, „dass Russland die illegal deportierten Kinder aus der Ukraine endlich nach Hause zurückkehren lässt.“
    Bundeskanzler Olaf Scholz fordert, „dass Russland die illegal deportierten Kinder aus der Ukraine endlich nach Hause zurückkehren lässt.“ © IMAGO/photothek | IMAGO/Thomas Trutschel

    Am Montag sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Blick auf den Schweizer Friedensgipfel: „Sehr konkret fordern wir, dass Russland die illegal deportierten Kinder aus der Ukraine endlich nach Hause zurückkehren lässt. Putin darf diese Kinder nicht länger als Geiseln nehmen.“ „Save Ukraine“ erhofft sich vom Schweizer Gipfel mehr finanzielle und diplomatische Hilfe für die Rückholung der Kinder, die derzeit nur mit hohem Aufwand möglich ist.

    Die Mutter, die wir im Februar in Cherson trafen, musste eigens über Polen, Weißrussland und Russland auf die Krim reisen, um ihren Sohn wiederzusehen und sich Verhören der russischen Behörden aussetzen. „Wir brauchen auch Unterstützung bei der psychologischen Betreuung der Kinder, die zurückkommen und für die Dokumentation der Entführungsfälle“, sagt Sprecherin Keseniia Pryzihlei. Die Dokumentationen fließen in die Ermittlungen des Strafgerichtshofes ein.  

    „Save Ukraine“ warnt Eltern davor, ihre Kinder wegzuschicken

    Die ukrainische Hilfsorganisation versucht auch, Eltern in den besetzten Gebieten darüber aufzuklären, welche Gefahren drohen, wenn sie ihre Kinder in russische Ferieneinrichtungen geben. „Wir haben eine Hotline, nutzen die sozialen Medien, manchmal kann in den besetzten Gebieten auch ukrainisches Fernsehen empfangen werden“, berichtet Pryzihlei.

    Außerdem gebe es Aktivisten in den besetzten Gebieten, die trotz Lebensgefahr die Arbeit von „Save Ukraine“ unterstützten und Eltern davor warnen, ihre Kinder abzugeben. In dem 800-Seelen-Nest Yakovenkove bei Charkiw wird bis heute kein Kind vermisst. Noch bevor die am Schwarzen Brett der Besatzungsverwaltung beworbenen „Erholungsmaßnahmen“ im russischen Krasnador begannen, wurde das Dorf von den ukrainischen Streitkräften befreit.   

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