Brüssel/Berlin. Verteidigungsminister Pistorius plant ein neues Wehrdienst-Modell. Andere in Europa sind schon weiter – und könnten ein Vorbild sein.

Kommt in Deutschland die Wehrpflicht zurück? Oder scheut Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) am Ende doch die große Wende? Der Minister will in Kürze einen Vorschlag vorlegen, der für die Zukunftsplanung von Millionen junger Männer und Frauen große Konsequenzen haben könnte. Bislang hatte sich der Minister überzeugt gezeigt, „dass Deutschland eine Art der Wehrpflicht benötigt“ - jetzt gibt allerdings es Hinweise, dass er davon abrückt.

Drei Optionen hat der Minister prüfen lassen, um die Personalprobleme der Bundeswehr zu lösen: Erstens die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für Männer und Frauen – zunächst als Wehrpflicht, in einem zweiten Schritt als erweiterter Dienst aber auch bei der Feuerwehr, Sanitätsdiensten oder dem Technischen Hilfswerk. Zweitens eine Fortsetzung des rein freiwilligen Wehrdienstes, aber mit konsequenter Nutzung jeder Anwerbemöglichkeit und Anreizen wie dem kostenlosen Führerschein bei der Truppe.

Lesen Sie auch: Bekommt Deutschland die Wehrpflicht wie in Schweden?

Dritte Option war eine „Wehrpflicht light“ nach dem Modell Schwedens , für die der Minister große Sympathien gezeigt hatte. Jetzt wohl nur noch in abgespeckter Form - indem alle 18-Jährigen einen Musterungsfragebogen ausfülllen müssten., es aber ansonsten - siehe Option zwei - bei Freiwilligkeit bleibt. Das Hü und Hott mag irritieren. Aber Pistorius und die Bundeswehr sind mit der schwierigen Suche nach Alternativen nicht allein: Auch viele europäische Nachbarn haben erst die Wehrpflicht beendet und kehren jetzt zum Teil zu ihr zurück oder suchen nach neuen Modellen, mit oder ganz ohne Zwang. Was steckt dahinter, was kann Deutschland davon lernen?

Kehrtwende bei der Wehrpflicht: Das ist der Grund

Zwischen 1990 und 2013 haben weltweit 24 Staaten die Wehrpflicht abgeschafft oder ausgesetzt, mehr als ein Dutzend in Europa. Die militärische Bedrohung war gesunken, eine Berufsarmee galt als kostengünstiges Zukunftsmodell: Gut ausgebildete Profis sollten mit anspruchsvoller Waffentechnologie schnell zu Kriseneinsätzen in aller Welt verlegt werden – die USA und Großbritannien machten es vor.

Boris Pistorius (SPD),  Bundesminister der Verteidigung besucht Litauen
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD, links) bei einem Truppenbesuch in Litauen. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Zwar halten autoritäre Staaten wie Russland, China oder Iran eisern an der Wehrpflicht fest – aber von den 27 EU-Staaten setzen zwei Drittel auf Berufsarmeen, teils ergänzt um einen freiwilligen Wehrdienst. Neun EU-Staaten haben eine Wehrpflicht in unterschiedlicher Ausprägung: Estland, Lettland, Litauen, Finnland, Schweden, Dänemark, Österreich, Zypern und Griechenland. Deutschland war 2011 mit der Aussetzung der Wehrpflicht vergleichsweise spät dran. Frankreich schaffte sie schon 1996 ab, Spanien folgte 2000, Italien 2004.

Das Blatt wendete sich spätestens 2014 mit der russischen Invasion auf der Krim. Erst stoppte die Ukraine den beschlossenen Abschied von der Wehrpflicht. Dann nahm Litauen den Ausstieg zurück, danach das damals neutrale Schweden, Norwegen und Lettland. Und bald auch Deutschland? Im Verteidigungsministerium wird befürchtet, dass ohne Kursänderung der Personalbedarf nicht zu decken ist, wenn die Bundeswehr um 20.000 auf 203.000 Soldaten aufgestockt werden soll.

Modell Lettland: Rückkehr zur Wehrpflicht

Lettland ist das jüngste Beispiel für die Renaissance der Wehrpflicht: 2007 wurde sie abgeschafft, im April 2023 wieder eingeführt – „wegen der zunehmenden Bedrohung durch Russland“, wie Verteidigungsminister Andris Sprūds sagt. Männer zwischen 18 und 27 Jahren müssen elf Monate zur Armee, Frauen können sich freiwillig melden. Nachbar Litauen war diesen Schritt schon 2015 gegangen, Estland hatte seine Wehrpflicht erst gar nicht ausgesetzt.

Für Deutschland lehnt Kanzler Olaf Scholz (SPD) eine Rückkehr zur alten Wehrpflicht-Armee zwar ab: Die „würde nicht mehr funktionieren“, sagt er, weil es die Kasernen und die Infrastruktur gar nicht mehr gebe. Diskutiert wird trotzdem darüber – nicht nur hierzulande, sondern zum Beispiel auch in Italien.

Modell Frankreich: Mini-Dienstpflicht

Frankreich hat zwar eine Berufsarmee, doch werden alle Staatsbürger zwischen 16 und 25 Jahren ab 2026 zu einem Allgemeinen Nationaldienst (SNU) verpflichtet, der bislang freiwillig war. Die Dienstpflicht dauert zunächst einen Monat und kann sowohl in zivilen als auch in militärischen Einrichtungen geleistet werden; dort ist eine Verlängerung auf bis zu drei Monate möglich. Das Ziel: französische Werte vermitteln, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft stärken.

Das ist zwar kein Comeback des Pflicht-Wehrdienstes, doch gibt es mit Fahnenappell und uniformähnlicher Kleidung Bezüge zur militärischen Ausbildung. So dürfte Nachwuchs für die Armee rekrutiert werden. Für Präsident Emmanuel Macron ist der SNU Teil einer „Wiederbewaffnung“ der französischen Gesellschaft durch Regeln und Rituale. Der britische Premier Rishi Sunak schlägt jetzt überraschend ein ähnliches Projekt für Großbritannien vor.

EXERCICE MILITAIRE PLATEAU GLIERES PARACHUTAGES
Französische Fallschirmjäger bei einem Manöver. Frankreich hat eine Berufsarmee, doch ab 2026 gilt außerdem eine allgemeine, kurze Dienstpflicht für junge Leute, die auch beim Militär absolviert werden kann. © picture alliance/dpa/MAXPPP | Tom Pham Van Suu

Ein Modell auch für Deutschland? Nur bedingt. Die hierzulande diskutierte Dienstpflicht wäre wesentlich umfassender: Sie soll nach einem Vorschlag von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein Jahr dauern und würde die Bundeswehr einerseits und soziale Dienste etwa zur Seniorenbetreuung oder in Obdachlosenunterkünften andererseits umfassen. „Es würde dem Land guttun, wenn sich Frauen und Männer für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der Gesellschaft stellen“, sagt Steinmeier. Ein ähnliches Modell verfolgt jetzt auch die CDU in ihrem Grundsatzprogramm.

Modell Schweden: Wehrpflicht light

Schweden ist das einzige EU-Land, in dem sowohl Männer als auch Frauen der Wehrpflicht unterliegen. Die war 2008 zunächst ausgesetzt und 2017 in veränderter Form wieder eingeführt worden. Alle Schulabgänger werden gemustert, die Armee spricht dann gezielt Männer und Frauen an, die für die Truppe geeignet sind. Bislang konnte Schweden auf diese Weise genug Freiwillige anwerben – weil das nicht mehr reicht, werden Bürger jetzt auch zwangsverpflichtet.

Lesen Sie auch den Kommentar: Nie mehr Wehrpflicht - drei Gründe, warum sie ein Fehler wäre

Pistorius hat große Sympathien für das Schweden-Modell, eine exakte Umsetzung in Deutschland ist aber schwierig. Der Bundeswehr fehlt es an Kasernen und Ausbildern. Zudem droht hierzulande ein Problem mit der Wehrgerechtigkeit, auf die das Bundesverfassungsgericht pocht. Doch auch in den Niederlanden, deren Armee große Personalprobleme hat, wird das Schweden-Modell geprüft.

Modell Dänemark: Wehrdienst per Los

Dänemark löst das Problem der Wehrgerechtigkeit per Losverfahren: Dort gilt die Wehrpflicht für alle, aber nur ein Fünftel wird eingezogen – gibt es nicht genug Freiwillige, wird ausgelost. Auch die litauische Armee setzt bei der Einberufung von Wehrdienstleistenden auf das Los.

Modell Polen: Ferien mit der Armee

Polen will im Zuge eines gigantischen Aufrüstungsprogramms die Zahl der Soldaten von 200.000 auf 300.000 erhöhen – die im Jahr 2009 abgeschaffte Wehrpflicht wird trotzdem nicht wieder eingeführt. „Das Interesse der Bürger an einem Dienst bei den Streitkräften ist sehr groß“, sagt Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz. Soldaten werden mit relativ guter Bezahlung und mit unkonventionellen Methoden gelockt.

Es gibt eintägige Kurztrainings und jetzt auch das Programm „Ferien mit der Armee“: Wer im Sommer sechs Wochen in einer Einheit dient, bekommt dafür umgerechnet 1400 Euro. Allerdings: Alle volljährigen Männer müssen sich bei der Militärkommission registrieren und auf Tauglichkeit untersuchen lassen – damit sie im Kriegsfall doch einberufen werden können.