Washington. Guantanamo – und kein Ende: Die USA scheitern daran, die inhaftierten Verdächtigen anzuklagen. Ein etwaiger Deal empört Hinterbliebene.
Brett Eagleson war 15, als sein Vater John Bruce am 11. September 2001 im Süd-Turm des World Trade Centers Opfer der schlimmsten islamistischen Terror-Anschläge der jüngeren Geschichte wurde; gemeinsam mit rund 3000 anderen Menschen in New York, Washington und Pennsylvania. Seither hat der 37-Jährige sein Leben in den Dienst der Aufklärung von "9/11" gestellt. Aufklärung heißt für Eagleson "Transparenz und Verantwortung".
Dazu zählt der aus Middletown/Connecticut stammende Mann, dass den fünf mit der Todesstrafe bedrohten Hauptdrahtziehern um den Anführer und früheren Osama Bin Laden-Intimus Khalid Scheich Mohammed (KSM), die seit über 17 Jahren im US-Militär-Strafgefangenenlager Guantanamo Bay auf Kuba festgehalten sind, endlich der finale Prozess gemacht wird. Zum 22. Jahrestag der epochalen Tragödie in wenigen Tagen weisen die Zeichen jedoch in eine andere Richtung.
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Das Verteidigungsministerium hat Angehörigen von Terror-Opfern nach Abstimmung mit dem Justizminister per Brief signalisiert, dass man geneigt ist, nach jahrelangem vorprozessualem Stillstand einen "Deal" mit den "Schlimmsten der Schlimmen" einzugehen. So hatte die Insassen einst der frühere US-Vizepräsident Dick Cheney genannt. Kurzform: Die Massenmörder um "KSM" liefern offiziell ein Schuldeingeständnis ab, die Todesstrafe kommt vom Tisch. Stattdessen bleiben die Täter bis ans Lebensende in Haft.
Terroranschlag vom 11. September 2001: USA erwägen "Deal" mit Angeklagten
Die noch immer nicht restlos aufgeklärten Hintergründe der Anschläge fielen unter den Tisch. Unter der Führung von Brett Eagleson hat die Angehörigen-Organisation "9/11 Gerechtigkeit" auf diesen Plan mit einem fulminanten und von 2000 Betroffenen unterzeichneten Brief an Präsident Joe Biden reagiert, der die Trauer-Andachten am kommenden Montag überschatten könnte.
Darin fordern die 9/11-Angehörigen einen öffentlichen Prozess, an dessen Ende nicht nur die Todesstrafe stehen müsse, sondern auch ein lückenloses Bild über das Wissen amerikanischer Geheimdienste. Hintergrund sind seit Jahren kursierende Informationen, wonach das saudische Königshaus in Riad an der Vorbereitung der Anschläge beteiligt gewesen sei. 15 von 19 Attentätern waren Saudis.
Saudi-Arabien bestreitet das bis heute hartnäckig und beruft sich dabei auf den über 20 Jahre alten Abschlussbericht der "9/11-Kommission" des Kongresses. Darin heißt es, es gebe keine Beweise dafür, dass die saudische Regierung "als Institution oder durch hochrangige Regierungsbeamte des Landes" die mit gekaperten Passagierflugzeugen durchgeführten Anschläge unterstützt hat.
Geheimakten zeigen: Attentäter hatten Hilfe von saudischen Geheimdienstlern
Die sehr spezifische Wortwahl lässt den Schluss zu, dass Einzeltäter aus dem Mittelbau der Wahhabiten-Regierung sehr wohl ihre Hände im Spiel gehabt haben könnten. Schon 2002 äußerte der damalige Senator Bob Graham den Verdacht, dass Informationen unter der Decke gehalten wurden, um keinen diplomatischen Eklat mit den Saudis zu provozieren. Dabei spiele mutmaßlich eine Rolle, dass Riad als Ölverkäufer und Waffenkäufer für Washington ein milliardenschwerer Partner sei.
Durch Teil-Veröffentlichung bisher geheimer oder geschwärzter Regierungsunterlagen weiß man inzwischen, dass zwei der 9/11-Attentäter, Nawaf al Hazmi und Khalid al Mihdhar aktive Hilfe saudischer Akteure hatten, als sie bereits im Jahr 2000 in San Diego/Kalifornien auftauchten. Beide steuerten den American-Airline-Flug 77 ins Pentagon.
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Omar al Bayoumi, den US-Stellen für einen saudischen Geheimdienstler hielten, vermittelte den späteren Massenmördern außerdem eine Wohnung, bürgte für den Mietvertrag und zahlte die Kaution. Bayoumi hatte regelmäßig telefonischen Kontakt mit der saudischen Botschaft in Washington. Mit einem Mann, dessen Name erst vor wenigen Jahren durch eine Justizpanne bekannt wurde: Mussaed Ahmed al-Jarrah.
Halten die CIA und das FBI Informationen zu saudischen Verstrickungen zurück?
Der Diplomat versorgte einen Monat vor den Attentaten eine als verdächtig geltende Moschee in New Jersey mit einem Scheck über eine Million Dollar und half den aus Kalifornien angereisten Attentätern. Al-Jarrahs Visite in New Jersey fiel zeitlich zusammen mit dem dortigen Aufenthalt von Mohammed Atta, dem aus Hamburg stammenden "Kopf" der Attentäter.
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Brett Eagleson ist sich sicher, dass CIA und Bundespolizei FBI weitere Informationen zurückhalten, obwohl Präsident Biden umfassende Transparenz zugesichert hat. "Nach mehr als zwei Jahrzehnten der Suche nach Wahrheit und Rechenschaftspflicht sehen wir uns unerklärlicherweise ein Mal mehr in der Situation, dass unsere eigene Regierung uns hintertreibt."
Eagleson steht auf dem Standpunkt, dass nur ein ordentlicher Strafprozess, in dem alles auf den Tisch kommt, den Angehörigen die Chance gibt, "mit der Katastrophe abzuschließen". "Wir verdienen zu hören, was die Angeklagten sagen, wir verdienen die Wahrheit."
9/11-Anführer: Erzwungenes Geständnis durch Waterboarding
Nach diesem Prozess sieht es aber nicht aus. Obwohl Terror-Chef "KSM" und der zur "Hamburger Zelle" um den Todespiloten Mohammed Atta gehörende Ramzi Binalshib sowie Ammar al-Baluchi, Mustafa Ahmed al-Hawsawi und Walid bin Attasch teilweise seit 2006 in Guantanamo inhaftiert sind, gibt es bis heute weder eine dezidierte Anklage noch einen Auftakt-Termin für den Prozess.
Stattdessen haben diverse Militärrichter gut zehn Jahre über diverse Vorverfahren gewacht, die allesamt im Nirvana endeten. Mit Absicht? US-Brigadegeneral Mark Martins, einer der früheren Chef-Ankläger, sagte bereits 2014 vor Journalisten auf der US-Marine-Basis Guantanamo hinter vorgehaltener Hand, eine Prognose über den Prozessbeginn sei so seriös wie die Ankündigung, dass es in Guantanamo demnächst einen "Schneesturm" geben könnte.
Ein Grund unter vielen: Anführer "KSM" wurde in illegalen Gefängnissen des Auslandsgeheimdienstes CIA gefoltert. Allein 183 Mal war er dem simulierten Ertrinken (Waterboarding) ausgesetzt. Seine Geständnisse gelten also als erzwungen. Zuletzt hatte ein Richter einen ähnlich gelagerten Fall deshalb platzen lassen. Dabei ging es um die 23 Jahre zurückliegenden Terroranschläge gegen das Militärschiff USS Cole.
Joe Biden und Mohammed Bin Salman vor "Mega-Deal"
Dabei gehen die Kosten für die fünf Hauptangeklagten von "9/11" längst ins Astronomische. Nach seriösen Schätzungen aus Militärkreisen hat allein die Verwahrung von Khalid Scheich Mohammed in Guantanamo über mittlerweile 17 Jahre den amerikanischen Steuerzahler 170 Millionen Dollar gekostet. Brett Eagleson und andere Aktivisten der 9/11-Angehörigen hatten darauf gesetzt, dass sich Präsident Biden von seinem Vorgänger absetzt und die saudische Komponente lückenlos aufklären lässt.
Donald Trump ließ vor Kurzem ein von Saudi-Arabien gesponsertes Golf-Turnier in einem seiner Ressorts ausrichten. Dabei merkte er zur Empörung von Opfer-Verbänden beiläufig an, es gebe keine Beweise für eine Verstrickung Riads in die Anschläge. Sein Schwiegersohn und Ex-Berater Jared Kushner erhielt aus saudischen Quellen zwei Milliarden Dollar für eine private Investition.
Wenige Tage vor dem G-20-Treffen in Indien sind bei Brett Eagleson die Hoffnungen geschwunden, dass die amtierende Regierung das Königreich in der Wüste vollständig zur Verantwortung ziehen wird. Um einen Mega-Deal, die Normalisierung der Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Israel, will sich Biden dem Vernehmen nach mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed Bin Salman koordinieren. Das Thema 9/11, die Hintergründe des Todes von John Bruce Eagleson und weiteren 3000 Menschen, würden dabei keine Rolle spielen.
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