Moskau. Russlands Präsident Putin lässt die Geschichte in seinem Sinne umschreiben – und macht selbst vor Kindern in der Ukraine nicht halt.
Während an der Front in der Ukraine unvermindert heftig gekämpft wird, treibt Russland in den annektierten Gebieten seinen Informationskrieg voran. Wenn dort ab dem 1. September die Schule wieder losgeht, werden auch ukrainische Schülerinnen und Schüler in ihren Büchern ein neues Geschichtsbild vorfinden – eines, das die russische „Spezialoperation“ lobt und die Ukraine als Terrorstaat diffamiert. „Russlands Ziel ist, einen pro-russsichen Informationsraum in den besetzten Gebieten zu schaffen, damit die nationale Identität der Ukraine erodiert“, heißt es dazu vom britischen Verteidigungsministerium.
Auch in Russland wird mit dem neuen Schuljahr an die 10. und 11. Klassen ein vollständig überarbeitetes Geschichtsbuch übergeben werden. Sergej Krawzow, russischer Bildungsminister, pries bei der Präsentation des Buches in Moskau das „einzige, souveräne System der nationalen Bildung“, in dem das Thema Geschichte zentral sei. „Unser Präsident hat wiederholt gesagt, dass es unmöglich ist, das historische Gedächtnis zu verfälschen, und dass es wichtig ist, dass in den Schulen objektive Fakten vermittelt werden.“
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Was das nach russischer Lesart heißt, zeigt sich etwa in den Abschnitten über den Zeitraum von 1970 bis 2000 – sie wurden komplett neu geschrieben. Zudem gibt es ein neues Kapitel über die Zeit von 2014 bis zur Gegenwart. Ein eigener Abschnitt ist der „Sonderoperation“ in der Ukraine gewidmet. Diese habe das Ziel, „die Feindseligkeiten in der Ukraine zu stoppen.“ Breites Thema sind auch die Beziehungen Russlands zum Westen im 21. Jahrhundert: den „Druck der Vereinigten Staaten“ etwa, oder „Geschichtsfälschung“ und „Wiederbelebung des Nationalsozialismus“.
Geschichtsbuch: Neues Weltbild für russische Kinder
Die „Destabilisierung der Lage innerhalb Russlands“ sei die „feste Idee“ der westlichen Länder, heißt es in dem Buch.. Beispiele dafür seien die Sanktionen, aber auch der Rückzug westlicher Firmen aus Russland. “Solche einzigartigen Zeiten kommen in der Geschichte nicht oft vor“, steht im Buch geschrieben. „Nach dem Wegzug ausländischer Unternehmen stehen Ihnen viele Märkte offen“. Es gebe nun „fantastische Karrieremöglichkeiten in der Wirtschaft“. „Lassen Sie sich diese Chance nicht entgehen. Heute ist Russland wirklich ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten.“
Russlands Kinder und Jugendliche sollen offensichtlich mit einem völlig neuen Welt- und Geschichtsbild aufwachsen – ganz im Sinne von Präsident Wladimir Putin. Von Journalisten gefragt, warum so hart gegen Regierungskritiker vorgegangen werde, sagte er: „Wir schreiben das Jahr 2023 und die Russische Föderation ist in einen bewaffneten Konflikt mit einem Nachbarn verwickelt. Ich denke, wir müssen eine bestimmte Haltung gegenüber den Menschen einnehmen, die uns im Inland Schaden zufügen.“
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Einer der wichtigsten Autoren des neuen Schulbuches ist der Politikerwissenschaftler und Journalist Armen Gasparjan, Mitglied im Zentralrat der russischen „Militärhistorischen Gesellschaft“ und ausgezeichnet vom Journalistenverband Russlands mit dem Ehrenabzeichen „Für Verdienste“ sowie mit einem Ehrendiplom des russischen Kommunikationsministeriums. Gasparjan war Manager in russischen Staatsmedien und veröffentlichte viele Bücher. Schon mit bloßem Auge sei zu erkennen, dass vieles im Buch „nicht von einem Lehrer oder Historiker, sondern von einem Publizisten verfasst wurde“, so das Online-Portal fontanka.ru.
Soziologe: Kritischen Lehrern drohen Probleme
„Die Auswahl der Fakten ist sehr einseitig, alles ‚Überflüssige‘ wird ignoriert“, bewertet ein Geschichtslehrer, befragt von fontanke.ru, das neue Schulbuch. Ein anderer erklärt: „In dem Teil, in dem es um das moderne Russland geht, wurden Problembereiche abgeschwächt, obwohl das Land immer noch unter den negativen Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion leidet. Meiner Meinung nach wird unsere Zeit idealisiert.“ Fazit: Das Schulbuch sei wie „aus dem sowjetischen Informationsbüro.“
Bereits die Kleinsten in Russland (und offenbar auch in den annektierten Ukraine-Gebieten) sollen auf Staatslinie gebracht werden – das ist die neue Aufgabe für Schulen. „Das vom Bildungsministerium genehmigte Bildungsprogramm in sechs Fächern, der Kurs für grundlegende Lebenssicherheit (OBZh) wurde durch eine militärische Grundausbildung (NVP) ergänzt, so die staatliche Nachrichtenagentur Interfax. Zum neuen Schuljahr soll es losgehen.
Wissenschaftler: „Werden Massennihilismus unter Teenagern sehen“
Für den Soziologen Iskander Yasaveev ist „dies weniger eine ernsthafte militärische Ausbildung als vielmehr eine Ausbildung in Gehorsam, Befolgen von Befehlen und Unterwerfung.“ Im kommenden Jahr werde es dann auch neue Geschichtsbücher für die Klassen 5 bis 9 geben, kündigte der russische Bildungsminister an. Vordenker des neuen russischen Geschichtsbildes ist der Ex-Kulturminister und Präsidentenberater Wladimir Medinskij.
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Seit April dieses Jahres sei am neuen Geschichtsbuch gearbeitet worden, sagte Medinskij laut der Nachrichtenagentur Tass. „Diese Arbeit wurde in einer unglaublichen Zeit geleistet.“ Er lobte vor allem die Verarbeitung des Buches. „Hardcover, der Rücken ist genäht, nicht geklebt. Dadurch können sie es so machen, wie es in der Sowjetzeit war, als das Lehrbuch fünf Jahre lang diente.“ Für den Historiker und Soziologen Mikhail Rozhansky geht es um viel mehr als um einziges Lehrbuch.
Der neue Trend im russischen Bildungswesen sei sowohl für Lehrer als auch für die zukünftige Generationen gefährlich, warnt Rozhansky. Lehrer könnten Probleme bekommen, wenn ihr „Unterricht nicht mit der Sichtweise des Staates übereinstimmt“ Die Folge könnte sein, dass unabhängige Lehrer weggehen oder sich anpassen – ein schlechtes Beispiel für die Schüler. „Massennihilismus unter Teenagern haben wir lange nicht mehr gesehen“, sagt der Wissenschaftler. „Wir werden das sehen. Und die Zahl der Opportunisten wird zunehmen.“
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