Berlin/Frankfurt. Die Polizei setzt immer häufiger auf Menschen mit besonderen Fähigkeiten bei der Gesichtserkennung. Forscher rätseln über ihre Gabe.
- Super Recognizer haben besondere Fähigkeiten, die dabei helfen, Kriminelle zu identifizieren
- In Deutschland kommen Super Recognizer vermehrt zum Einsatz, doch andere Länder sind einen Schritt voraus
- Über die genaue Ursache für die Fähigkeiten von Super Recognizern rätseln Forscher noch
Alles, was es vom Täter gibt, ist nur ein Videoschnipsel, eine wenig scharfe Aufnahme der Überwachungskamera im Frankfurter Hauptbahnhof, gefilmt von schräg oben und aus 20 Metern Entfernung. Der Mann auf dem Foto soll einem Fahrgast mit einem Messer in den Hals gestochen haben, eine brutale, lebensbedrohende Tat.
In den Datenbanken der Polizei spuckt der Computer Bilder von 2000 Personen aus, die der Täter sein könnten, sortiert nach Alter, Körpergröße, Hautfarbe – eine schiere Masse an Fahndungsdaten, verzerrten und schwammigen Fotos von Überwachungskameras, mit wenig Hoffnung, den Täter zu identifizieren. So ist es oft im Alltag der Ermittlerinnen und Ermittler. Und es ist der Moment, wo Maximilian Langecker sein Team ins Rennen schickt: die Super Recognizer vom Polizeipräsidium Frankfurt am Main.
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Ein Beamter scrollt auf dem Bildschirm durch die Fahndungsfotos, er sieht den Täter auf der Videoaufnahme. Es dauert 15 Minuten, bis er einen Treffer meldet. Die Fahndung läuft an, Polizisten spüren den mutmaßlichen Täter auf – und bringen den Fall zur Anklage.
Selbst wenn sie einen Bart tragen oder eine Mütze – sie werden dennoch erkannt
Der Polizist schafft es in kürzester Zeit, den Täter aus 2000 Bildern herauszufiltern. Er hat die bemerkenswerte Gabe, die laut Wissenschaftlern nur ein bis zwei Prozent der Menschen auf der Welt besitzen: Der Polizist kann Gesichter besonders gut wiedererkennen, selbst nach langer Zeit. Selbst wenn sie ihr Aussehen ändern, einen Bart tragen oder eine Mütze. Selbst wenn sie 15 Jahre älter aussehen, erkennen sie sie wieder. Der Beamte nutzt diese Fähigkeit jetzt, um Verbrecher zu jagen.
Heutzutage analysiert die Polizei riesige Datenmengen, sie nutzt moderne IT-Technik, leistungsstarke Server, bearbeitet täglich Tausende Bilder von Überwachungskameras und will auch immer mehr Künstliche Intelligenz nutzen. Trotzdem hat seit kurzem der Super Recognizer in der deutschen Polizei Konjunktur. Kein Hochleistungsrechner, keine riesige Datenbank – sondern ein Mensch. Es wirkt fast wie aus einer anderen Zeit.
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Und doch sind Ermittler begeistert. „Im Zeitraum Mai 2021 bis März 2023 konnten die Frankfurter Super Recognizer bereits in über 1.400 Fällen Personen wiedererkennen, Taten zusammenführen und Ersuchen anderer Dienststellen erfolgreich bearbeiten“, sagt Polizeihauptkommissar Maximilian Langecker. Er leitet die Koordinierungsstelle Super Recognizer im Polizeipräsidium in Frankfurt am Main.
Bei den Krawallen in Stuttgart kamen Super Recognizer zum Einsatz, in den Ermittlungen zur Kölner Silvesternacht, beim Oktoberfest in München, auch Berlin setzt die begabten Beamten ein. Immer wieder scheitert Software bei der Gesichtserkennung bisher. Gerade jetzt, wo die Technik noch nicht so weit ist, wo Kameraaufnahmen oft unscharf sind, oder die Algorithmen der Künstliche Intelligenz noch nicht ausgereift sind, greift die Polizei auf Beamte zurück: auf menschliche Intelligenz.
Super Recognizer erkennen auch Gesichter auf verpixelten und unscharfen Fotos
Trotzdem hinkte Deutschland lange hinterher. Sicherheitsbehörden in Großbritannien arbeiten schon seit Jahren mit Super Recognizern, haben Testverfahren entwickelt, trainieren ihre Beamtinnen und Beamten. Englische Polizisten halfen auch nach der Kölner Silvesternacht. Nun laufen in vielen Bundesländern in Deutschland Pilotprojekte, rekrutieren Dienststellen ihre Mitarbeitenden für die neue Aufgabe. Im Polizeipräsidium Frankfurt arbeiten zwei Super Recognizer hauptamtlich, 69 Freiwillige scannen zusätzliche in Dienstzeiten die Fahndungsdatenbanken – immer dann, wenn ein Fall vorliegt oder sie Zeit haben.
Wer aber wird Super Recognizer? Langecker erklärt, dass Interessierte einen „Vortest“ machen müssen: ein Foto eines Gesichts müssen sie in einer Gruppe von Bildern wiedererkennen. Danach geht es vertiefend mit Erkennen von Gesichtern weiter, drei Stunden lang. „Dabei werden Fotos auch verpixelt oder unscharf gemacht“, sagt Langecker. „Es zeigt sich aber, dass Super Recognizer auch Personen wiedererkennen können, wenn die Bilder ungenau aufgenommen sind oder aus weiter Ferne. Manchmal erkennen sie erfolgreich Personen wieder, wenn nur die Augen zu sehen sind oder gar nur der Hinterkopf.“
Ausschließlich Polizisten können Super Recognizer werden. Das hat vor allem damit zu tun, dass nur sie Zugriff auf sensible Ermittlungsverfahren haben dürfen. Aber jede und jeder kann sich selbst testen. Die Universität Greenwich in London ist Vorreiter bei der Erforschung dieser genetisch verankerten Fähigkeit – und hat einen Spaßtest auf die Webseite der Hochschule gestellt, auch auf Deutsch. Wer dort in mehr als 10 von 14 Fällen Gesichter wiedererkennt, hat schon mal die erste Hürde genommen. Ob sie oder er tatsächlich besondere Fähigkeiten hat, müssten dann weitere Tests zeigen.
Forschung rätselt über die Ursache für die Fähigkeiten von Super Recognizern
Es gibt Menschen, die können Gesichter nur schlecht erkennen. Die Forschung nennt das Prosopagnosie. Warum aber Super Recognizer besonders gut im Identifizieren von Personen sind, ist der Forschung bisher nicht vollends bekannt. Gehirnströme wurden untersucht, Augenbewegungen. Die genauen Ursachen bleiben aber im Dunkeln.
Es fehlt auch bei der Polizeiarbeit noch an Studien, die belegen, wie effektiv die Sondereinheiten im Ermittleralltag sind. Und welche Rolle ein Training dieser Gabe spielt. Viele Untersuchungen fanden bisher nur im Labor statt – weniger auf Dienststellen. Dies bemängeln auch Psychologen der Hochschule der Polizei in Rheinland-Pfalz, die 2022 einen Bericht zu Super Recognizern bei deutschen Behörden veröffentlichten.
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Ohnehin gilt: Augenzeugen sind im Strafsystem eine der Achillesfersen. DNA-Tests in den USA haben gezeigt, dass von 300 unschuldig Verurteilten mehr als 75 Prozent falsch von Augenzeugen identifiziert wurden. Der Mensch täuscht sich beim Wiedererkennen also sehr oft.
Manche Super Recognizer melden und erkennen mehr Fälle als andere
Vorsichtig gegenüber den Erfolgsmeldungen der Polizeipräsidien ist auch der Kriminologe Martin Thüne. Ähnlich habe er das auch beim Einsatz von Bodycams oder dem „Predictive Policing“ empfunden, dem Erkennen von Straftaten durch Computerprogramme bevor sie passieren. „In Wahrheit haben alle diese Methoden auch Defizite oder Risiken“, sagt Thüne. Etwa mit Blick auf Effektivität der kognitiven Gaben der Beamten. Risiken bestehen immer dann, wenn ein Mensch durch eine falsch erkannte Gesichtsprüfung ins Visier von Ermittlern gerät.
Polizist Langecker berichtet, dass manche Super Recognizer mehr Fälle melden und erkennen als andere. „Das liegt nicht unbedingt an den besonderen Fähigkeiten, sondern auch an dem Charakter eines Beamten. Ist er entschlossen genug, sich auch festzulegen und dazu zu stehen?“ Zur Kontrolle gilt in seiner Einheit das „Vier-Augen-Prinizip“. Jeder Treffer der Super Recognizer werde geprüft. Auch die weiteren Ermittlungen der Polizei würden zeigen, ob die Identität tatsächlich stimmt, wie sie vom Super Recognizer entdeckt wurde. Bisher, sagt Langecker, sei das in fast allen Fällen so.
Dieser Artikel erschien zuerst am 19.6.2023
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