Kabul. Zehntausende Afghanen haben sich vor den Taliban nach Kabul geflüchtet, jetzt haben die Islamisten auch die Hauptstadt erobert. Eine Reportage.
Niksad Salahuddin kommt schweißgebadet nach Hause und reißt panisch alle Schubladen seines Schreibtischs auf. Eben ist er zwei Stunden lang in der prallen Sonne die staubige Straße von seinem Büro im Zentrum bis zu seinem Haus weit im Norden der afghanischen Hauptstadt Kabul zu Fuß gelaufen. „Wo ist die Schere?“, habe er seine Frau gefragt. Und dann habe er begonnen, seine schwarze Dokumentenmappe auszuräumen, erzählt der 35-Jährige am Telefon. „Ich habe eine Heidenangst“, sagt er und muss Luft holen. „Alle sagen, die Taliban sind schon in der Stadt.“
Eingeschweißte Dienstausweise, Empfehlungsschreiben und Visadokumente habe er begonnen, in kleine Stücke zu zerschneiden. Manche von ihnen waren von US-Streitkräften und vom afghanischen Innenministerium ausgestellt worden. Dokumente, so glaubt er, die ihm den Kopf kosten könnten, wenn die Taliban sie fänden. „Ich muss alles zerstören“, murmelt er, bevor er auflegt.
Kabul: Der Kampf um Afghanistan ist entschieden
An diesem Wochenende ist der Kampf um Afghanistan entschieden. Die radikalen Islamisten der Taliban sind in der Hauptstadt Kabul angekommen, ihre Kämpfer ziehen durch die Straßen.
Die Lage am Sonntagnachmittag ist chaotisch. An manchen Teilen der Stadt sammeln sich Hunderte Menschen vor Banken, wollen ihr Geld abheben, afghanische Währung gegen Dollar tauschen. Es gab Prügeleien und Schießereien um die Reihenfolge in der Schlange. Videos und Fotos von Handyaufnahmen zeigen Staus in den Straßen von Kabul.
Anderenorts in der Hauptstadt ist es still, Geschäfte sind dicht, die Straßen leer. Die Händler auf den sonst dicht gedrängten Märkten haben sich zurückgezogen, haben ihre Läden verbarrikadiert.
Afghanistan: Die Preise für Burkas steigen, weil die Nachfrage so groß ist
Wieder andernorts wurden rasch Maler herbeigerufen, um allzu freizügige Reklamebilder an Geschäften, die Frauen zeigten, schnell zu übermalen. Auch Musiker ließen ihre Banner entfernen. Andere begannen, mit den Fingernägeln Konterfeis von Ahmad Schah Massud, dem legendären verstorbenen Kämpfer gegen die Taliban aus dem Pandschir-Tal, von ihren Autoscheiben zu kratzen. Die Preise für Burkas sind gestiegen, weil die Nachfrage unter den Frauen so groß ist. Wenn die Taliban kommen, werden sie unter den blauen Stoffgefängnissen verschwinden müssen.
Zwar fallen immer wieder Schüsse in der Stadt, doch große Kampfhandlungen zwischen Taliban und afghanischer Armee um die Hauptstadt sind nicht dokumentiert. Die Kapitulation der vom Westen unterstützten Regierung ging in Windeseile: Am Sonntag kursierten bereits Videos von Talibankämpfern im Präsidentenpalast. Präsident Aschraf Ghani hatte das Land da schon verlassen. Lokale Medien berichteten, er sei nach Tadschikistan geflogen.
Bundeswehr fliegt Deutsche aus Kabul aus
Die deutsche Botschaft in Kabul schloss am Sonntag, das Personal wurde per Hubschrauber zum Flughafen gebracht. Dort richtete das Personal ein Notquartier ein, Bundeswehr-Kräfte sollen die Diplomaten und Angestellten der Botschaft am Montag per Luftbrücke ausfliegen – zunächst auch nach Tadschikistan.
Auch vom Flughafen gibt es am späten Sonntag Meldungen über Taliban-Angriffe. Wie schnell der Einmarsch der Taliban in der Hauptstadt Kabul ging, zeigt ein Rückblick auf den Tag davor – auf Kabuls letzten Tag in Freiheit: Die Sonne steht tief über der Stadt. Das Geschützfeuer der afghanischen Armee rollt dumpf grollend zwischen den Bergen um die afghanische Hauptstadt. Noch üben sie, bereiten sich auf das vor, was kommen kann. Am Ende werden sie den Islamisten nichts entgegensetzen.
Immer wieder überfliegen Helikopter die Stadt. In der Stadt geht das Leben weiter. Es ist, als würden die Menschen verdrängen, was ihnen bevorsteht. Unter der schicksalsergeben anmutenden Oberfläche herrschen Angst und Nervosität. Auf den Straßen ist viel Militär unterwegs. Eine Hochzeitsgesellschaft fährt auf der anderen Straßenseite, hupend, aus den Autos jubeln Männer und Frauen, sie feiern vielleicht zu letzten Mal gemeinsam. Dahinter rollt eine Kolonne gepanzerter Fahrzeuge mit ernst dreinblickenden Soldaten. In der Stadt trifft man Menschen, die Angst haben vor dem, was kommt. Vor dem Regime der Taliban. Und es sind Zehntausende in der Stadt, die aus dem ganzen Land geflohen sind, als die Taliban ihre Städte und Dörfer in den vergangenen Tagen und Wochen eingenommen haben. Kabul war für viele die letzte Rettung, die Hoffnung, vor den Islamisten in Sicherheit zu kommen.
Viele Afghanen sind aus anderen Provinzen nach Kabul geflüchtet
Im Shahr-e-Naw-Park im zehnten Distrikt sitzen die Leute auf den weitläufigen, von der Hitze verdorrten Rasenflächen, Männer spielen Carambole, unterhalten sich. Frauen kauern mit ihren Kindern an den Hecken, viele tragen die Burka, den blauen Ganzkörperschleier. Einige der Frauen sitzen auf Säcken mit Reis, es sind Spenden, sie sind Geflüchtete aus anderen Landesteilen. Wer Glück hat, ist bei Verwandten untergekommen. Wer Geld hat, kann sich eine Wohnung leisten. Andere sind von der Regierung in leer stehenden Gebäudekomplexen im Osten und Westen der Stadt untergebracht worden.
Abudullah* hat zehn Tage mit seinen sechs Kindern und seiner Frau in einem Park in der Stadt verbracht. Er stammt aus dem 350 Kilometer nördlich gelegenen Kundus, jener Stadt, bei der die Bundeswehr jahrelang stationiert war. Zuletzt waren die Amerikaner im Flughafen in Kundus, als sie abzogen, griffen die Taliban an. „In der Nacht vom 1. auf den 2. August hat es bei uns an der Tür geklopft“, erzählt der 42-Jährige in perfektem Deutsch. Es waren Regierungssoldaten. „Sie haben gesagt, wir sollen sofort das Haus verlassen, wir hätten zehn Minuten.“ Abdullah floh Hals über Kopf mit der Familie, kurze Zeit später zerstörten Raketen das Haus. „Wir hatten nicht einmal Zeit, allen Kindern Schuhe anzuziehen.“
Abdullah hat für die Bundeswehr gearbeitet – für die Taliban ist er ein Ziel
Abdullah hat acht Jahre für die Bundeswehr gearbeitet, als Dolmetscher, zwischen 2003 und 2011. Danach bis 2015 für eine Firma, die für die Bundeswehr und für die afghanische Armee Bauaufträge ausgeführt hat. Aus der Bundeswehr-Zeit hat er auf seinem Telefon noch Fotos, die ihn zusammen mit deutschen Soldaten zeigen. Mehr nicht. Seine Unterlagen sind in den Trümmern seines Hauses verloren gegangen. Für die Taliban ist er ein Ziel. Nach seiner Zeit als Dolmetscher hatte er sich als Taxi-Fahrer selbstständig gemacht, pendelte zwischen Kundus und Kabul. Irgendwann fragten ihn Taliban-Kämpfer an einem Checkpoint, ob er für die Ausländer gearbeitet habe. „ich habe gesagt, nein, habe ich nicht.“ Sie antworteten: „Doch, hast du. Wir wissen das.“
Wie es mit ihm und seiner Familie weitergeht, weiß Abdullah nicht. Er hat Angst um seine Kinder, fünf von ihnen sind Mädchen. „Die Taliban setzen jetzt schon ihre Steinzeitregeln durch. In Baghlan dürfen Mädchen nur noch bis zur sechsten Klasse die Schule besuchen.“ Immerhin: Seine Kinder sind unverletzt aus Kundus herausgekommen.
Hamas (13) wurde in Kundus von einem Querschläger getroffen
Hamas hatte nicht so viel Glück. Ein dicker Verband ist um den Kopf des 13-jährigen Jungen gewickelt, der in einem weinroten Hemd auf der Holzbank des kleinen Büros von Friedensdorf International im Zentrum von Kabul sitzt. Auch Hamas kommt aus Kundus. Bei den Kämpfen hat ein Querschläger seinen Kopf durchschlagen, seine Augen zerfetzt. Er wird nie mehr sehen können. Sein Vater zeigt auf seinem Mobil-Telefon ein Bild, das er nach der Verwundung seines Sohnes aufgenommen hat, er hofft darauf, dass die deutsche Organisation Hamas ausfliegt.
Friedensdorf International ist seit 1988 in Afghanistan aktiv und holt von hier Kinder zur Behandlung nach Deutschland, Patienten mit Knochenentzündungen, schweren Verbrennungen oder anderen Verletzungen und Krankheiten. Doktor Marouf, der einheimische Arzt mit dem eindrucksvollen langen Bart, der seit Anfang an mit dem Friedensdorf zusammenarbeitet, schüttelt langsam den Kopf. Hamas kann nicht mit, seine Verletzung könnte auch in Deutschland nicht behandelt werden.
Afghanistan: Die Flucht ins Ausland können sich nur die Reichen leisten
In dem Büro auf dem Gelände des afghanischen Roten Halbmonds kommen in diesen Tagen viele Eltern an, die darauf hoffen, dass ihre Kinder aus dem kriegszerfressenen Land herauskommen. Die Mutter des kleinen Sayed Amir ist mit ihrem neunjährigen Sohn aus Mazar-I-Sharif gekommen, 450 Kilometer entfernt im Norden, ebenfalls ein ehemaliger Bundeswehr-Standort und viele Tage heftig umkämpft. Er hat nur eine kleine Schramme am Bein.
Als sie fortgeschickt wird, schiebt sie mit zitternder Hand einen Zettel über den Tisch, darauf steht in unbeholfenem Englisch: „Mein Sohn ist müde wegen der Explosionen vor seiner Schule. Er weint jede Nacht bis zum Morgen und am Tag bis in die Nacht. Wir sind arm. Bitte schickt meinen Sohn nach Deutschland.“ Die Flucht ins Ausland können sich nur die Reichen leisten, und sie auch nur, wenn sie Pässe haben. Vor wenigen Tagen hat die Regierung die Passausgabe in Kabul wegen des großen Andrangs geschlossen.
Afghanen haben über vierzig Jahre Krieg miterlebt
Viele, die hier ankommen, haben lange Wege auf sich genommen. Ein älterer Mann aus Herat im Westen war mit seinem 14-jährigen Sohn 22 Stunden mit dem Bus unterwegs. „Wir mussten wegen der Kämpfe Umwege fahren“, erzählt er. In Ghazni, einer Provinz im Südwesten von Kabul, die am Donnerstag von den Taliban überrannt wurde, haben sie am Straßenrand über 20 Leichen gesehen. Afghanische Soldaten, die von den Islamisten ermordet wurden, nachdem sie ihre Waffen niedergelegt hatten.
„Ich habe in den achtziger Jahren als Mudschaheddin gegen die Russen gekämpft, dann war ich bei den Taliban“, erzählt der Mann mit dem graumelierten langen Bart freimütig. „Jetzt bin ich Landwirt. Gott wird uns helfen.“ Fast alle, die aus den Provinzen kommen, zucken mit den Schultern, wenn man sie auf die Entwicklung anspricht. Sie haben über vierzig Jahre Krieg erlebt. Sie wissen, dass es in Afghanistan nicht klug ist, sich in die Politik einzumischen, und ratsam, sich mit neuen Machthabern zu arrangieren.
Pari (23) weiß: Ihr Studium wird sie nicht fortsetzen können, wenn die Taliban regieren
In der Park Mall, einem schicken Einkaufszentrum im 10. Bezirk, spielen an diesem Samstag junge Leute Billard, andere bowlen. Im Restaurant im fünften Stock sitzt Pari, 23, lackierte Fingernägel, ein elegantes, rosafarbenes Kostüm, die Haare fallen aus dem Kopftuch heraus, vor ihr steht ein Bananen-Shake. „Meine größte Sorge ist, dass wir Frauen die Freiheiten, die wir in den vergangenen Jahren hatten, nicht mehr haben werden.“ Sie studiert Jura, und ihr ist klar, dass sie das nicht mehr machen kann, wenn die Taliban die Kontrolle übernehmen. In Herat haben sie Frauen bereits aus der Universität verbannt, in Kandahar haben sie die weiblichen Angestellten aus Banken nach Hause geschickt. „Meine Mutter hat mir von früher erzählt, als sie auf der Straße ausgepeitscht worden ist, weil sie ohne männliche Begleitung das Haus verlassen hat, um ins Krankenhaus zu gehen.“
Ihr Verlobter Asib ist Deutscher, er kommt aus Kassel, arbeitet für das Land Hessen, ist engagiertes SPD-Mitglied und er will Pari unbedingt nach Deutschland holen. Um ein Visum zu bekommen, müssen sie aber einen Termin in der Deutschen Botschaft im indischen Neu-Delhi bekommen, in Kabul gibt seit 2017 keine Visumsstelle mehr. Damals hatte ein Bombenanschlag das Diplomatenviertel Wasir Akbar Chan verheert, auch die Deutsche Botschaft wurde zerstört.
Afghanistan: Ein Land voller verzweifelter Einzelschicksale
„Ich habe im vergangenen Oktober einen Antrag auf einen Termin gestellt, aber seitdem nichts mehr gehört“, erzählt Asib. „Wir haben alle Papiere längst zusammen, das Standesamt in Kassel hat unserer Eheschließung bereits zugestimmt, ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Er ist enttäuscht und wütend, auch, weil ihm seine Partei, für die er ehrenamtlich so viel getan hat, keine Unterstützung geben will. Als er im Büro von Außenminister Heiko Maas angerufen hat, „wurde mir gesagt, auf Einzelschicksale könne man vor den Wahlen keine Rücksicht nehmen“.
Afghanistan, ist in diesen Tagen ein Land voller verzweifelter Einzelschicksale. In Bamiyan, der Provinz westlich von Kabul, in der die Taliban 2001 die gewaltigen Buddha-Statuen zerstörten, harrt Ahmad seines Schicksals. Noch haben die Taliban an diesem Samstag die Provinz nicht eingenommen. „Aber sie sind überall um uns herum“, erzählt er am Telefon.
Ahmad (32): Die Taliban "werden mich ohnehin töten"
Ahmad*, 32, ist Vater von drei kleinen Kindern und arbeitet für eine afghanische Menschenrechtsorganisation, die von den Vereinten Nationen finanziert wird. „Die Taliban akzeptieren keine Menschenrechte“, sagt er, „für sie gilt nur die Scharia.“ Aus Bamiyan seien alle Ausländer ausgeflogen worden. „Uns lassen sie zurück. Die Internationale Gemeinschaft lässt die Menschen in Afghanistan im Stich.“ Ob er mit seinem Namen in der Zeitung erwähnt werden kann? „Es ist eigentlich egal“, sagt er. „Sie werden mich ohnehin töten.“
*Namen von der Red. geändert