Berlin. Beim Einsatz westlicher Waffen muss die Ukraine mehr Spielraum bekommen. Das schließt Ziele in Russland ein. Dafür gibt es drei Gründe.
Die Sorgen um die militärische Widerstandsfähigkeit der Ukraine sind in den westlichen Hauptstädten derzeit so groß wie seit der ersten Phase nach dem russischen Angriff vor mehr als zwei Jahren nicht. Das Land bräuchte dringend größere Kapazitäten zur Verteidigung gegen Russlands Raketenangriffe. Ein von Deutschland versprochenes drittes Flugabwehrsystem Patriot wird erst in einiger Zeit vor Ort bereitstehen. An der Front gerät die Ukraine zunehmend unter Druck, mit ihrer Bodenoffensive auf die Großstadt Charkiw haben die russischen Invasoren große Gebietsgewinne erzielt. In dieser Lage ist unter den Unterstützern der Ukraine ein Umdenken zu beobachten.
Ukraine-Krieg: Schwere Vorwürfe gegen Soldaten bei Charkiw
Bisher gilt die Vereinbarung, dass die Ukraine die von Deutschland, den USA und anderen Staaten gelieferten Waffen nicht gegen Ziele auf russischem Territorium einsetzt. Daran hat sich die Führung in Kiew bislang gehalten. Das Land kämpft daher nur mit Einschränkungen – zur Freude Putins und seiner Militärs, die ihren Krieg in Ruhe planen können. „Wir kennen alle Gebiete, in denen russische Raketen und Kampfflugzeuge gestartet werden“, beklagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich. Wirksam etwas dagegen tun kann er aufgrund der Auflagen der westlichen Unterstützer aber nicht.
Es gibt keine rechtlichen Grenzen für den Einsatz westlicher Waffen – nur politische
Das soll sich nun ändern. Das finden zumindest Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und der in militärischen Fragen stets forsche französische Staatschef Emmanuel Macron. Auch die US-Regierung hat mittlerweile einen Kurswechsel eingeleitet: Offenbar erlaubt Präsident Joe Biden den Einsatz amerikanischer Waffen gegen russisches Territorium in engen Grenzen: Dies gelte ausschließlich zur Verteidigung von Charkiw, hieß es in Washington. Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich bisher uneindeutig, was wiederum am Klärungsbedarf in Washington lag. Sollte sich dort nun die Sichtweise ändern, dürfte dies auch für Scholz Signalwirkung haben.
Denn es gibt gute Gründe, der Ukraine mehr Spielraum beim Einsatz westlicher Waffen zu lassen.
- Erstens sind Angriffe der Ukraine auf Ziele in Russland vom Völkerrecht gedeckt. Die Beschränkungen für den Einsatz westlicher Waffen sind keine rechtlichen, sondern politische.
- Zweitens greift die Ukraine bereits Depots oder andere militärische Einrichtungen auf russischem Gebiet an, nutzt dafür bisher allerdings eigene Drohnen. Der Einsatz präziserer Waffen gegen militärische Ziele auch in Russland macht die Gegenwehr der Ukraine somit schlagkräftiger, der Einstieg in eine höhere Eskalationsstufe ist damit aber nicht erreicht.
- Drittens wird somit weder rechtlich noch militärisch eine rote Linie überschritten, die Russland als Rechtfertigung für eine Eskalation dienen kann. Zudem gilt: Wenn Putin den Krieg eskalieren will, braucht er dafür keinen Vorwand.
Auch Putin soll sich fragen müssen, womit er zu rechnen hat
Die Nato-Staaten sollten ihre Position zum Einsatzbereich ihrer Waffen klären – und damit nicht bis zum Gipfeltreffen der Allianz im Juli in Washington warten. Und eins sollten sich die Verbündeten nach mehr als zwei Jahren Krieg endlich merken: Zu Putins Kriegsführung gehört auch, dass er in Deutschland und anderen Staaten, die der Ukraine helfen, mit seinen ständigen Drohungen Angst und Verunsicherung sät, um den Rückhalt für die Ukraine zu schwächen. Die öffentlich zu beobachtende Uneinigkeit im Bündnis trägt außerdem ihren Teil dazu bei. Wenn der Westen gemeinsam mit der Ukraine erfolgreich sein will, braucht es Einigkeit und die Stärke, Putin über die eigenen Pläne im Dunkeln zu lassen. Auch der Kremlchef soll sich fragen, womit er rechnen muss, wenn er den Krieg so brutal weiterführt wie bisher.
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