Düsseldorf. 16-Jährige brauchen keine politische TikTok-Anbiederung, sondern Respekt und Chancen. Das kostet Gehirnschmalz und Milliarden.
Tanzen will Olaf Scholz nicht. Versprochen. Das hat der Kanzler klargestellt, bevor er Mitte April sein erstes Filmchen bei TikTok hochladen ließ. Der etwas schale Witz offenbarte die Hilflosigkeit der etablierten Politik im Umgang mit der chinesischen Kurzvideo-Plattform, die mit selbstgedrehten Tanzeinlagen berühmt wurde und heute das einflussreichste Medium für junge Leute ist. Schätzungen zufolge nutzen 21 Millionen Bundesbürger inzwischen TikTok. Etliche scheinen anfällig zu sein für Wut und Krawall der AfD, deren Geschäftsmodell eben besonders gut mit dem auf Polarisierung und Emotionen geeichten Algorithmus harmoniert.
Lange kümmerte es keinen, doch vor der Europawahl kommt Panik auf. Kürzlich hat die Trendstudie „Jugend in Deutschland 2024“ einen Rechtsruck der Genration Z diagnostiziert. Die 14- bis 29-Jährigen seien zunehmend verunsichert, unzufrieden, psychisch anfälliger als Vorgängergenerationen und damit ansprechbarer für all den populistischen Mist, der ihnen rund um die Uhr aufs Handydisplay gespült wird.
Die etablierten Parteien können es nicht mehr ignorieren. Erstmals dürfen bei der Europawahl am 9. Juni auch Hunderttausende 16-Jährige abstimmen. Deren Lebenswelt, Wertegerüst und Mediennutzung scheinen den Regierenden immer fremder zu werden. Ob daran ein Aktentaschen-Video des Kanzlers in Strickjacke oder die etwas linkischen Fremdenführer-Filmchen aus dem Kanzleramt etwas ändern?
Corona hat die Kluft innerhalb der Generation Z dramatisch vergrößert
Das erste große Missverständnis liegt wohl darin, dass es „die“ Jugend gar nicht gibt. Schon vor fünf Jahren lieferte die letzte Shell-Studie warnende Hinweise, welche Kluft sich innerhalb der nachwachsenden Generation auftut. Da ist zum einen die große Gruppe von leistungsorientierten, politisch engagierten, klimabewegten jungen Leuten. Das sind jene, die tolerant und kosmopolitisch auf die Welt blicken und Achtsamkeit gegenüber sich und anderen üben.
Eine genauso große Gruppe fühlt sich hingegen abgehängt, hat zuhause wenig Bildung, Empathie und Förderung erlebt. Diese Jugendlichen sind für populistische Einflüsterungen besonders empfänglich. Ihre pädagogische Armut erscheint viel gravierender als die finanzielle, weshalb Bürgergeld-Debatten völlig am Problem vorbeigehen. Außer dem Handy bietet niemand Orientierung. Dabei spielt es nicht einmal die entscheidende Rolle, dass ein Drittel aller Jungen und Mädchen mittlerweile einen Migrationshintergrund haben.
In der politischen Debatte kommen beide Gruppen, die sich in der Corona-Pandemie noch weiter voneinander entfernt haben, immer nur holzschnittartig vor. Der ersten wird suggeriert, sie sei zu faul für die Fünf-Tage-Woche, lebe einen „Genderwahn“, hysterisiere die Klimakatastrophe, bekomme ihr Abitur hinterhergeworfen und sei von Helikopter-Eltern verzogen. Vor allem in konservativen Kreisen zünden selbst billigste Scherze über diese „Hafermilch-Generation“ verlässlich. Wie selbstbewusst gerade Mädchen heute alle Rollenfesseln ihrer Eltern- und Großeltern-Generation sprengen, überkommene Autoritäten klug hinterfragen und gewissenhaft ihren Platz in der Gesellschaft finden, wird dabei geflissentlich übersehen.
Chancenlosigkeit wird vererbt, es fehlt nicht an Sozialleistungen
Für die zweite, weitaus problematischere Gruppe fällt dem Staat nicht mehr ein als finanzielle Fürsorge und therapeutisches Ruhigstellen. Obwohl jeder Jugendamtsmitarbeiter aufzählen kann, wie sich prekäre Verhältnisse von Generation zu Generation vererben. Sie können straßenzuggenau benennen, wo es gar nicht zuerst am Materiellen fehlt, sondern am Mindset: an der Kompetenz, das Leben selbst in die Hand nehmen zu wollen. Der Zusammenhang zwischen familiärer Herkunft und Lebenschancen ist mittlerweile in Deutschland so krass wie noch nie.
Die Politik weiß das eigentlich. Jeder Abgeordnete, der einst selbst mit „Migrationshintergrund“ startete oder den zweiten Bildungsweg nehmen konnte, gibt hinter vorgehaltener Hand zu: Heute fehlen nicht nur Aufstiegsehrgeiz der stolzen „Mein Kind soll es mal besser haben“-Generation, sondern auch der hilfsbereite biodeutsche Nachbar oder der Fußballtrainer, die ihnen einst Chancen boten. Im Kern ist die umstrittene neue „Kindergrundsicherung“ deshalb die Vollendung des Selbstbetrugs, dass in einem der reichsten Länder der Erde bloß der fehlende Zugang zu Sozialleistungen schuld sein soll.
Die Erstwähler-Generation steht unter permanentem Social Media-Druck
Das Aufwachsen der neuen Erstwähler-Generation ist zweifellos schwierig. Sie kann sich kaum noch abgrenzen von den Älteren, die ja bis mindestens 70 weiße Sneaker tragen, geduzt werden wollen und die gleiche Musik hören. Die Jungen müssen zudem in einem bildmächtigen Social Media-Zeitalter jederzeit um Aufmerksamkeit buhlen, sich immerzu positionieren und als Stars ihres eigenen Lebens posieren. Wer das durchstehen soll, muss sehr gefestigt sein.
Der Kampf gegen Populismus wird deshalb nicht mit regierungsamtlichen TikTok-Videos gewonnen. Notwendig wäre eine Bildungs-, Sport-, Kultur- und Ganztagsoffensive, die nicht nur die Kinder von gutsituierten Doppelverdiener-Paaren erreicht, sondern vor allem jene, die Sprachförderung, Erziehung, Wertevermittlung bitter nötig haben. Gerade NRW ist genau in die entgegengesetzte Richtung unterwegs. Statt zumindest den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ab 2026 endlich zum Anlass zu nehmen, all jenen eine Anschlussmöglichkeit zur sozialen Durchmischung zu bieten, deren Eltern eben keine Förderung bieten wollen oder können und auch nicht nach Belieben ins Homeoffice wechseln dürfen, passiert empörend wenig. Dabei wären gute Ganztagsstrukturen während der gesamten Bildungskarriere die beste Immunisierung gegen falsche Propheten. Das kostet Milliarden. Und mehr Gehirnschmalz als ein 20 Sekunden-Clip auf TikTok.