Erbil. Der sogenannte „Islamische Staat“ ist im Irak noch immer präsent. „Auch Deutschland sollte wachsam sein“, sagt Rebar Ahmed Khalid.
Am späten Samstagabend explodiert in Daoud al-Salem, einem kleinen Dorf in der irakischen Provinz Diyala, eine Bombe. Als schiitische Milizionäre zu dem Anschlagsort eilen, detoniert ein zweiter Sprengsatz. Ein Mann stirbt, vier weitere werden verletzt. Im Norden des Irak ist das eine Nachricht, die für wenig Aufsehen sorgt.
Der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) ist hier zehn Jahre nach der Ausrufung seines Terrorkalifats und fünf Jahre nach seiner Zerschlagung noch immer präsent. Rebar Ahmed Khalid ist überzeugt: Die Terroristen sind auch eine Gefahr für Europa. „Sie suchen nur nach einer passenden Gelegenheit, wieder aktiv zu werden. Auch Deutschland sollte wachsam sein“, warnt der Innenminister der autonomen Region Kurdistan.
Islamischer Staat hat zu Anschlägen während der EM aufgerufen
Nachdem in einer finalen Schlacht im syrischen al-Baghuz im März 2019 das Terrorkalifat des IS untergegangen war, schien die Anschlagsgefahr für Deutschland deutlich reduziert. Irak und Syrien, die Geburtsländer des IS, werden nicht mehr als mögliche operative Basen für koordinierte Attentate jenseits der Landesgrenzen eingeschätzt. Aktuell halten die deutschen Behörden den afghanischen Ableger des IS für das größte Sicherheitsrisiko. Erst vor drei Wochen hatte der „Islamische Staat in der Provinz Khorosan“, kurz ISPK, zu Anschlägen während der EM aufgerufen, konkret: in Berlin, Dortmund und München. Die Spuren von in den vergangenen Monaten vereitelten Terrorplänen führen alle nach Afghanistan.
Der kurdische Innenminister hält es jedoch für gefährlich, den IS im Irak und in Syrien zu unterschätzen. „Aktuell ist der IS viel stärker als im Jahr 2014“, betont Khalid im Gespräch mit unserer Redaktion. Als die Terroristen vor zehn Jahren die Großstadt Mossul im Nordirak einnahmen, hätten sie über wenige Hundert Kämpfer verfügt. Jetzt seien Tausende Menschen in der Region noch immer Anhänger der Ideologie des IS. Die Gruppierung sei in der Lage und willens, größere Operationen und Anschläge auch im Ausland durchzuführen oder zu orchestrieren, ist der Innenminister überzeugt. Auch ein Wiedererstarken des IS im Irak und in Syrien hält Khalid für möglich: „Die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß.“
Kurdischer Innenminister: Der IS in Syrien ist noch gefährlicher
Im Irak nutzen die verbliebenen IS-Zellen den chronischen Zwist zwischen der irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung im Norden aus. In den Provinzen Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din gelten manche Gebiete als umstritten. Zwischen den Einheiten der irakischen Armee und kurdischen Peschmerga-Kämpfern gibt es Landstriche, die keine Seite kontrolliert und in denen sich die Terroristen bewegen können und Rückzugsräume finden. Ein Missstand, den auch das Pentagon beklagt. In einem Bericht zur noch immer laufenden Anti-Terroroperation „Inherent Resolve“ (in etwa: „natürliche Entschlossenheit“) aus dem Februar heißt es, der IS nutze „Sicherheitslücken“ aus und verübe „sporadische“ Anschläge.
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Bereits vor drei Jahren hatten Zentral- und Regionalregierung eine Sicherheitspartnerschaft und die Aufstellung zweier gemeinsamer Divisionen vereinbart, um die Lücken zu schließen. Zur Umsetzung ist es bis heute nicht gekommen. Das hat mitunter tödliche Folgen: Erst vor zwei Wochen gelang es einem IS-Kommando, in Salah ad-Din eine Einheit der irakischen Armee zu attackieren und sechs Soldaten zu töten, darunter ein Regimentskommandeur.
Für noch größer hält der kurdische Innenminister die Gefahr, die vom IS in Syrien ausgeht. Dort sind im Nordosten des Landes allein in der ersten Mai-Hälfte etwa 30 Menschen bei IS-Angriffen getötet worden. Insbesondere das Gefangenenlager Al-Hol bereitet Khalid Kopfzerbrechen. In diesem Camp sind seit fünf Jahren etwa 50.000 Angehörige von IS-Kämpfern aus vielen Nationen untergebracht. Bewacht wird es von den „Demokratischen Streitkräften Syriens“ (SDF), deren Rückgrat syrisch-kurdische Verteidigungseinheiten sind. Die Lebensumstände im Camp gelten als prekär, viele der Insassen als maximal radikalisiert. „Das ist eine tickende Zeitbombe“, warnt der irakisch-kurdische Innenminister. Er habe wiederholt eine internationale Konferenz angeregt, auf der über die Zukunft des Camps entschieden werden soll. „Das ist eine Aufgabe der Weltgemeinschaft. Es geht um die Sicherheit der Weltgemeinschaft.“