Düsseldorf. Die Zweifel am Kohleausstieg 2030 wachsen. Jetzt zeigen erstmals Regierungsdokumente, wie vier Grüne 2022 mit RWE ins Geschäft kamen.
Eine der weitreichendsten und umstrittensten energiepolitischen Entscheidungen der Landesgeschichte ist offenbar bewusst an Kabinett, Parlament und Öffentlichkeit vorbei getroffen worden. Wie erst jetzt aus internen Schriftwechseln zum vorgezogenen Kohleausstiegsbeschluss im Herbst 2022 hervorgeht, einigten sich damals vier prominente Grünen-Politiker gewissermaßen auf dem kleinen Dienstweg mit RWE-Chef Markus Krebber. Die Offenlegung der Dokumente hat FDP-Landtagsfraktionschef Henning Höne mit Hilfe des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) erzwungen.
Obwohl die Landesregierung sämtliche E-Mails von RWE-Vertretern an die beteiligten Ministerien weiterhin geschwärzt hält und die interne Korrespondenz im NRW-Wirtschaftsressort nicht preisgeben will, ist allein das nun freigegebene Material aufschlussreich. Es verstärkt den schon länger kritisierten Eindruck eines „Hinterzimmer-Deals“ ohne wirkliche Folgeabschätzung für den Industriestandort NRW.
Über Wochen waren nur Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, sein damaliger Staatssekretär Patrick Graichen, NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur und NRW-Umweltminister Oliver Krischer (alle Grüne) mit RWE im Geschäft. Graichen, der später in der „Trauzeugen-Affäre“ zurücktreten muss, fasst schon am 22. September 2022 in einer Mail an Neubaur und Krischer den 4. Oktober als Verkündigungstermin für den auf 2030 vorgezogenen Kohleausstieg mit dem Essener Energieriesen ins Auge. Der Habeck-Vertraute bittet darum, den involvierten Personenkreis möglichst eng zu halten.
Brauchten die Grünen vor dem Bundesparteitag 2022 einen verkaufbaren Erfolg?
Ziel war es offenbar, vor Beginn des grünen Bundesparteitages am 14. Oktober 2022 einen irgendwie verkaufbaren Erfolg zu präsentieren. Der Parteitag droht damals für Habeck und Neubaur ein schwerer Gang zu werden. Die anstehende Entscheidung zur Verlängerung für einzelne Atomkraftwerke in der akuten Energiekrise passt der Basis nicht. Zudem deuten seit dem Sommer erste Gutachten daraufhin, dass RWE in seinem Braunkohle-Tagebau Garzweiler technisch nicht um das Protestdorf Lützerath herumbaggern kann.
Mehr Atomstrom und das Aus für „Lützi“, den neuen Sammlungsort der Klimabewegung - das alles wäre mit einem vorgezogenen Kohleausstieg in NRW für die Grünen deutlich besser zu verdauen. Die Ampel in Berlin hat 2030 zwar ohnehin in ihrem Koalitionsvertrag „idealerweise“ zum neuen Zieldatum erklärt. Auch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) hatte sich schon in seiner ersten Regierungserklärung im November 2021 – seinerzeit noch als Chef einer schwarz-gelben Koalition – mit dem überraschenden Wunsch nach einem vorgezogenen Kohleausstieg 2030 demonstrativ an den nächsten Regierungspartner herangerobbt. Aber fixiert ist im Herbst 2022 nichts.
Ob es energiewirtschaftlich verantwortbar ist, den erst 2019 von einer überparteilich besetzen „Kohlekommission“ vorgezeichneten Ausstiegspfad bis 2038 noch einmal deutlich abzukürzen, soll augenscheinlich nicht im Landtag diskutiert werden. Selbst das Landeskabinett von Ministerpräsident Wüst darf im Herbst 2022 nicht vorab befasst werden.
Wüst hatte auf den letzten Metern des Kohledeals noch Änderungswünsche
Neubaur schreibt am 1. Oktober an Graichen, Habeck und Krebber, dass sie den Entwurf einer Ausstiegsvereinbarung lediglich mit Wüst rückgekoppelt habe. Zwei Tage später berichtet sie, der Ministerpräsident habe noch Änderungswünsche, eine Kabinettsbefassung sei aber wegen der vereinbarten Vertraulichkeit nicht möglich. Am 4. Oktober um zehn Uhr morgens treten Neubaur, Habeck und Krebber dann in Berlin vor die Presse. In den frühen Morgenstunden wird nur exklusiv die grüne Landtagsfraktion vorab informiert. Eilig lässt man dort Jubelmeldungen vorbereiten. Tenor: „Es ist ein enormer Erfolg, dass der Kohleausstieg in NRW trotz der aktuellen Energiekrise acht Jahre früher als bisher gesetzlich vorgesehen gelingt.“
Eigentlich schreibt eine Parlamentsinformationsvereinbarung zwischen Landesregierung und Landtag vor, dass bei landesbedeutsamen Entscheidungen das Parlament unverzüglich informiert werden muss. Vielleicht wäre bei intensiver Beratung deutlich geworden, dass Kohlekraftwerke in NRW nur dann früher abgeschaltet werden können, wenn zwischenzeitlich moderne Gaskraftwerke als Schwankungsreserve für sonnen- und windarme Tage gebaut sind und der Staat deren absehbar seltene Einsatzzeiten saftig subventioniert.
Davon ist bis heute wenig zu erkennen. Inzwischen zweifelt selbst Wüst, der damals die Hand für den grünen „Hinterzimmer-Deal“ gereicht hat, dass die Rechnung bis 2030 wirklich aufgehen kann. Außerdem ist längst klar, dass Habeck und Neubaur dem Essener RWE-Konzern das frühere Ausstiegsdatum keinesfalls übermäßig hart abhandeln mussten. Gewiss, rund 280 Millionen Tonnen Kohle des ursprünglichen Abbaugebietes mussten im Boden bleiben. Dafür durfte RWE zwei abgeschriebene Kohlemeiler in Neurath länger betreiben, Lützerath abbaggern, bekommt Unterstützung beim Bau von Gaskraftwerken, spart künftig Emissionszertifikate und kann Flächen im Rheinischen Revier für Erneuerbare Energien neu nutzen. Und ein Öko-Transformationssiegel gab es für den einst bei den Grünen verhassten „Kohlekonzern“ frei Haus. Ein Verhandlungssieg auf ganzer Linie für Krebber.
FDP-Fraktionschef Henning Höne will nun die ganze Wahrheit über die Ausstiegsvereinbarung erfahren. „Die Grünen mauern weiter und versuchen ihr Regierungshandeln zu vertuschen. Statt der versprochenen Transparenz haben wir lediglich bruchstückhafte und umfassend geschwärzte Dokumente erhalten“, kritisiert er. Die Öffentlichkeit habe ein Anrecht darauf zu erfahren, welche geheimen Absprachen getroffen wurden und welche Risiken das für die Energieversorgung berge. Höne will volle Transparenz notfalls mit Hilfe von Gerichten erzwingen: „Unsere Geduld ist am Ende. Wir prüfen weitere rechtliche Schritte.“