Berlin/Freiburg. Freiburger Kriminologen lassen Täter in einer virtuellen Welt einbrechen – und finden heraus, was Hausbesitzer wirklich schützt.
Der Einbrecher sieht dunkle Ecken, oben auf dem Balkon, zum Beispiel. „Also ist es leicht, dort ein Fenster aufzubrechen.“ Und in der Hauswand sind Löcher, einfach zu nutzen als Tritte, um hochzuklettern. Der Täter geht weiter durch die Nachbarschaft, er sagt: „Ich sehe Büsche, in denen man sich leicht verstecken kann.“ Wenn ein Anwohner vorbeiläuft, könne er dort abtauchen, bis die Luft wieder rein ist.
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Der Täter zieht weiter über die Straße, blickt auf die Reihenhäuser, späht in die Gärten, schleicht unter den Laternen durch. Aber er ist nicht allein. Er wird beobachtet, von Wissenschaftlern. Sie schauen ihm über die Schulter. Sind dabei, wenn er die Schlösser aufbricht oder durch Fenster in Häuser einsteigt.
Kriminalität zu erforschen, ist kompliziert. Sie passiert im Verborgenen. Die Täter haben wohl kaum Interesse an Begleitung – und selbst wenn, dann wäre es ethisch und rechtlich schwer zu vertreten für die Forschenden. Schließlich würden sie Straftaten beiwohnen.
Für das Experiment sind die Forscher zu den Tätern ins Gefängnis gekommen
Deshalb zieht der Mann, der eben noch Balkone und Gärten für seinen Beutezug ausgekundschaftet hat, nicht durch echte Nachbarschaften. Es ist ein virtueller Raum, erfunden mithilfe von Software und Designern, wie in einem Computerspiel. Der Mann aber ist ein echter verurteilter Dieb.
Für das Experiment sind die Forscher zu ihm ins Gefängnis gekommen. Sie haben Technik mitgebracht, einige Bildschirme, Controller, eine übergroße spezielle Brille, mit der Menschen in die „Virtual Reality“ eintauchen. Wärter führen die Insassen aus ihren Zellen, bringen sie in einen Raum. Dort setzen die Einbrecher die VR-Brille auf – und ziehen los. Der Auftrag der Forscher an die Täter: Gehen Sie los in der virtuellen Welt, so wie sie auch draußen zuschlagen würden. Dann beobachten sie sie.
Die Idee kommt von der englischen Universität in Portsmouth. Heute arbeitet ein internationales Forscherteam an dem Experiment, besucht Täter in Gefängnissen in England, den Niederlanden und USA. In Deutschland arbeiteten die Wissenschaftler mit der Justizvollzugsanstalt im baden-württembergischen Bruchsal zusammen.
180 Mal am Tag wird in Deutschland eingebrochen
Entscheidend an dem Projekt beteiligt ist das Max-Planck-Institut in Freiburg, Mitarbeiter werten Daten aus, führen Interviews mit den Tätern. Unter den Forschern ist auch Jean-Louis van Gelder, Direktor der Einrichtung. Er versteht jetzt besser, wie Einbrecher denken. Wie sie bei ihren Taten in Wohnvierteln vorgehen. Van Gelder hat gelernt, dass nur Amateure durch die Vordertür eindringen. Dass Profis meist im Schlafzimmer anfangen, weil dort Schmuck versteckt ist, und sie lieber die leichten, wertvollen Gegenstände stehlen. Einen Flachbildfernseher trägt kein professioneller Einbrecher nachts über die Straße, sagt der Kriminologe. Viel zu auffällig.
Und van Gelder weiß, dass kurz vor Weihnachten die Prime-Time für Diebe ist, wenn die wertvollen Geschenke schon im Wohnzimmer liegen, meist noch originalverpackt. Kurz nach Weihnachten sehen die Täter, wer welche Pappkartons vor der Garage lagert. Es ist wie eine Lagerinventur, eine Einladung für den Hauseinbruch.
180 Mal am Tag bricht ein Täter in eine Firma, ein Haus oder eine Wohnung in Deutschland ein, ein jährlicher Schaden von Hunderten Millionen Euro. Die Zahl der Einbrüche stieg bis 2015 deutlich an, damals waren es noch mehr als 450 Taten pro Tag. Banden, meist mit Bezug zu Osteuropa, zogen durch Deutschland, die Ermittler sprachen von „reisenden Tätergruppen“.
Die Politik stand unter Druck, gründete Sonderkommissionen bei der Polizei, schickte Einsatzkräfte auf Streife. Vor allem aber warnten die Strafverfolgungsbehörden, klärten auf über Sicherheitstechnik. Überwachungskameras wurden besser, Schlösser stabiler. Oft hilft schon ein gut sichtbarer Aufkleber am Haus „Kameraüberwachung“. Und Täter wandern mehr und mehr ab, vor allem an einen anderen Tatort: das Internet. Online-Delikte sind stark gestiegen.
Hellere Laternen, mehr Lärm und Geräusche: Schützt das Wohnviertel wirklich?
2022 stiegen erstmals die Fallzahlen wieder. Und die Aufklärungsquoten bleiben gering. Die Polizei findet in nicht einmal jedem sechsten Fall den Einbrecher. Zum Vergleich: Bei Mord liegt die Aufklärung bei über 90 Prozent. Auch deshalb will das Team um Kriminologe van Gelder besser wissen, wie Täter vorgehen. Einiges konnten sie mit ihren Untersuchungen bereits herausfinden. So waren in einem konstruierten virtuellen Wohnviertel mehr Geräusche zu hören, etwa Stimmen, ein laufender Fernseher, Lärm aus einer Garage, wo ein Nachbar handwerkt. „Doch das schreckt die Täter nicht unbedingt ab, sondern kann auch bedeuten, dass sie das Gefühl haben, die Anwohner sind abgelenkt. Dann schlagen sie zu“, sagt van Gelder.
Spannend auch das Experiment mit Straßenlaternen: Je heller, desto besser, würde man denken. Aber die Forscher fanden durch die Versuche heraus, dass die Einbrecher die hellen Laternen wenig wahrnahmen. „Es hinderte sie nicht am weiteren Vorgehen in der virtuellen Nachbarschaft“, so van Gelder.
Helleres Laternenlicht, ein Babygeschrei in einem Haus, ein Nachbar mit seinem Hund auf dem Fußweg – die Forscher können in den virtuellen Szenarien ganz gezielt einzelne Faktoren beeinflussen und herausfinden, wie sich das auf das Handeln der Täter auswirkt. In der Realität sind Umwelt und Anwohner kaum so genau zu steuern, ein weiterer Vorteil von Virtual Reality. Die Technik macht möglich, dass die Wissenschaftler während der virtuellen Einbrüche sogar die Augenbewegung der Täter, ihre Blickrichtung und Kopfbewegungen verfolgen können.
Hohe Hecken und dichte Zäune nicht immer der bessere Schutz
Zu Beginn des Experiments musste das Team um van Gelder erst einmal herausfinden, ob die Einbrecher in der virtuellen Welt genauso handeln wie in der Realität. Schließlich riskieren sie nicht, von der Polizei entdeckt zu werden. Sehen die Täter den virtuellen Beutezug nur als Spiel an? Verheimlichen sie ihre Tricks?
Die Forscher testeten die virtuellen Beutezüge in der JVA Bruchsal zunächst, um so mögliche Auswirkungen der Haftbedingungen auf das Experiment zu erkennen, die Daten flossen allerdings nicht in das Projekt ein. Sie verglichen das Vorgehen der Täter in der virtuellen Realität zudem mit Aussagen aus früheren Interviews mit Einbrechern und Polizeiwissen über Tathergang und Täterprofile. Sie ließen Nicht-Straftäter, eine Art Vergleichsgruppe, durch die computergenerierte Nachbarschaft ziehen, um typisches Verhalten der professionellen Diebe besser zu erkennen. Heute ist sich van Gelder sicher, dass die virtuellen Versuche nah an die Realität heranreichen. Dabei sei es nicht einmal so entscheidend, dass das virtuelle Wohnviertel und die Zimmer in den Häusern täuschend echt aussehen.
Mit manchen Mythen konnten die Forscher brechen. Hohe Hecken und dichte Zäune sind nicht immer der bessere Schutz. Im Gegenteil: Täter fühlen sich hinter dichten Büschen unbeobachtet. Und ein großer Hund als Wächter in den eigenen vier Wänden schreckt nur dann ab, wenn er auch laut und lange bellt.