Berlin. Egal ob beim Führerschein, Schulbüchern oder dem Arbeitsschutz – für alles gibt es Regeln. Beispiele aus dem Alltag zum Kopfschütteln.
Es kommt eher selten vor, dass sich die zerstrittene Berliner Ampelkoalition selbst auf die Schulter klopft. Vor ein paar Tagen aber war es mal wieder so weit: Da verständigten sich SPD, Grüne und FDP darauf, dass es in Deutschland künftig möglich sein soll, Arbeitsverträge per E-Mail abzuschließen. Statt der bisher verbindlichen Schriftform auf Papier soll künftig die elektronische Textform ausreichen. Willkommen im 21. Jahrhundert!
„Das ist ein großer Schritt zur Vereinfachung für Unternehmen und Beschäftigte gleichermaßen“, jubelte die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Irene Mihalic. Ihr FDP-Kollege Johannes Vogel ergänzte: „Das ist ein wesentlicher Schritt zu mehr Digitalisierung und weniger Bürokratie.“ Die Regelung soll einfließen in ein Gesetz zum Bürokratie-Abbau, das sich gerade im parlamentarischen Verfahren befindet. Seit jeher ist der deutsche Staat besonders stark darin, Bürger und Betriebe mit Papierkram und Vorschriften zu behelligen.
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Über ein Lichten des Dickichts wird seit Jahrzehnten geredet. Geschehen ist bislang viel zu wenig. Es gibt jede Menge Normen, die den Betroffenen das Leben schwer machen. Insbesondere Unternehmen empfinden die damit verbundenen Dokumentations- und Nachweispflichten als immense Belastung: Wenn ständig irgendwelche Formulare ausgefüllt, Papiere archiviert oder Verfahren eingehalten werden müssen, entstehen den Betrieben erhebliche Kosten. Außerdem werden Beschäftigte und Inhaber von ihrer eigentlichen Arbeit abgehalten. Die verschleppte Digitalisierung in deutschen Behörden verschärft die Situation noch weiter.
Behörden: Über die Auftragsvergabe entscheidet das Los
Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) und die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) haben für unsere Redaktion ein paar besonders krasse Bürokratie-Beispiele aus der Praxis herausgesucht:
- Die verpflichtende Arbeitsschutzbeurteilung: Das Handwerk klagt darüber, dass für jeden Arbeitsplatz mit Blick auf Schwangere eine spezifische Arbeitsschutzbeurteilung notwendig ist. „Diese umfangreiche Dokumentationspflicht zur Gefahrenlage für Schwangere besteht selbst dann, wenn die Stelle gar nicht von einer Frau besetzt ist“, berichtet der ZDH.
- Fahrerlaubnis für ausländische Fachkräfte: Den Industrie- und Handelskammern sind Fälle bekannt, in denen ausländische Mitarbeiter deutscher Betriebe plötzlich ohne gültigen Führerschein dastehen. Und das, obwohl es erklärtes Ziel der Politik ist, Deutschland attraktiver für Fachkräfte aus anderen Ländern zu machen. So stellte eine Unternehmerin aus Niedersachsen einen Mitarbeiter aus Mexiko ein, der bereits über 30 Jahre Fahrerfahrung in seiner Heimat verfügte. Mit einem Touristenvisum legte er noch einmal eine Fahrprüfung in Deutschland ab. „Der Führerschein verliert sofort die Gültigkeit, sobald die Aufenthaltsgenehmigung sich ändert“, berichtet die DIHK. Der Mann muss noch einmal die theoretische und die praktische Prüfung nachholen, für seine Frau gilt dasselbe. Kosten für beide: etwa 6000 bis 7000 Euro. Die Firma befindet sich im ländlichen Raum, ein Leben und Arbeiten ohne Auto ist dort kaum möglich.
- Kohlendioxid-Grenzausgleich: Die Europäische Union will den Ausstoß des Klimagases Kohlendioxid massiv senken und verhindern, dass Firmen verstärkt Waren aus Drittstaaten mit laxeren Klimagesetzen kaufen oder ihre eigene Produktion gleich dorthin verlagern. Für jede importiere Tonne CO2 müssen deshalb im Rahmen des EU-Grenzausgleichssystems (CBAM, Carbon Border Adjustment Mechanism) eigene Zertifikate gekauft werden. Die DIHK berichtet, dass jeder, der etwa in Drittstaaten Schrauben über einem Wert von 150 Euro einkauft, sich als CBAM-Importeur registrieren und mehr als 200 Datenfelder fristgerecht ausfüllen muss. „In Deutschland wurde das entsprechende CBAM-Portal erst einige Tage vor der ersten Abgabefrist Ende Januar aktiviert“, heißt es – obwohl CBAM bereits seit Anfang Oktober 2023 in Kraft ist.
- Statistik im Güterverkehr: Das Bundesamt für Logistik und Mobilität erhebt regelmäßig Daten in Bezug auf den Transport von Gütern auf der Straße. Abgefragt werden Informationen über die Transportleistung einzelner Fahrzeuge (nach Kennzeichen). Die Betreiber müssen sehr detaillierte Fragebögen ausfüllen und unter anderem angeben, wo auf der Route Stopps eingelegt wurden (Postleitzahlen und Orte), welche Staaten durchquert wurden, welche Fahrzeugdaten maßgeblich sind und wie groß der Anhänger ist. Außerdem müssen sie die Gütermenge in Kilogramm angeben sowie Auskunft darüber geben, ob die Ladung flüssig oder fest war. „Die Informationen sind nur mit einem enormen Zeitaufwand nachzuhalten“, heißt es bei der DIHK.
- Schulbuchbestellung per Ausschreibung: Öffentliche Aufträge müssen ab einer bestimmten Summe ausgeschrieben werden. Das soll dazu beitragen, dass die öffentliche Hand sparsam mit dem Geld der Steuerzahler umgeht. In Rheinland-Pfalz gelten seit anderthalb Jahren neue Vorschriften für die Beschaffung von Schulbüchern: Wenn etwa eine Kommune oder ein Landkreis für die örtlichen Schulen Bücher kauft, muss der Auftrag ab einem Gesamtwert von 10.000 Euro ausgeschrieben werden, ab 215.000 Euro sogar EU-weit. Eine freihändige Vergabe an die lokalen Buchhändler ist nicht mehr möglich. Allerdings gilt in Deutschland die Buchpreisbindung, auch Schulbücher haben überall den identischen Preis. Das bedeutet, dass auch alle Angebote identisch sind. „Daher entscheidet das Los, welche Buchhandlung den Zuschlag erhält, und der Kauf in der Buchhandlung vor Ort wird unterbunden, obwohl hier langjährige Partnerschaften aufgebaut wurden“, kritisieren die Industrie- und Handelskammern. Die örtlichen Händler gehen also unter Umständen leer aus. Die Kommunen und Kreise aber – die ansonsten Mühe haben, den lokalen Einzelhandel am Leben zu halten – müssen aufwendige Vergabeverfahren abwickeln, ohne am Ende Geld zu sparen.
Koalition: Buschmann vergleicht Bürokratie mit „Bauchspeck“
Die Beispiele illustrieren aus Sicht der Wirtschaft, wie stark die Bürokratie in Deutschland überhandgenommen hat. Die Berliner Ampelkoalition verspricht zumindest etwas Besserung: Mitte März brachte das Kabinett ein Gesetz zur Bürokratie-Entlastung auf den Weg. Geplant ist unter anderem, dass deutsche Staatsbürger in Hotels künftig keine Meldezettel mehr ausfüllen müssen – ausländische aber schon. Außerdem sollen Firmen Belege künftig statt zehn Jahren nur noch acht Jahre aufbewahren müssen.
Die Wirtschaft findet das im Prinzip gut, aber nicht ausreichend. Der zuständige Justizminister Marco Buschmann (FDP) spricht von einem „ersten Schritt“, dem weitere folgen würden. Er meint mit Blick auf die Bürokratie in Deutschland: „Das ist so ein bisschen, wie wenn man sich über die Jahre so einen Bauch an Bauchspeck anfrisst, den kriegt man nicht über Nacht mit einem Knopfdruck weg. Aber wir müssen ja mal anfangen.“
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