Düsseldorf. Zu wenige Plätze in Frauenhäusern, zu hohe Hürden vor der Wohnungsverweisung. Darum ist der Kampf gegen häusliche Gewalt so schwierig.
Angesichts der Zunahme von Fällen häuslicher Gewalt in NRW werden in der Landespolitik Forderungen nach einem besseren Schutz von Frauen vor prügelnden Partnern laut.
Die SPD-Landtagsfraktion hält die Hürden für eine Wohnungsverweisung für zu hoch. Derzeit dürfe die Polizei in NRW einen Gewalttäter nur dann für zehn Tage aus einer Wohnung verweisen, wenn eine eindeutige Gefahr für Leib und Leben von ihm ausgehe. In einigen anderen Bundesländern genüge es, wenn die Polizei nur den Eindruck habe, der Täter werde möglicherweise künftig zu einer Gefahr für Menschen, die mit ihm in einer Wohnung leben.
Häusliche Gewalt: Was ist, wenn ein Mann die Wohnung zertrümmert, aber die Frau nicht anrührt?
Der seit 20 Jahren auf das Thema häusliche Gewalt spezialisierte Bochumer Polizeibeamte Andreas Derks bestätigt dies: „Länder wie Bremen, Hamburg, Berlin und Rheinland-Pfalz haben die Schwelle abgesenkt, indem sie allgemein die ,Gefahr‘ und nicht nur die ,gegenwärtige Gefahr‘ prognostizieren. Das erleichtert es sehr. In der Öffentlichkeit kursiert der Spruch ,Wer schlägt, der geht‘, und das ist auch der politische Wille. Aber das reicht nicht“, sagte Derks im Interview mit dieser Redaktion. Wenn zum Beispiel ein Mann die ganze Wohnung zertrümmert, die Frau aber nicht angerührt habe, stehe die Polizei vor der schwierigen Frage, ob sie den Mann aus der Wohnung werfen könne oder nicht. Die heutige Rechtslage in NRW lasse dies oft nicht zu, und Opfer gerieten unter Umständen in Lebensgefahr.
Laut Polizeilicher Kriminalstatistik stieg die Zahl der bekannt gewordenen Fälle häuslicher Gewalt in NRW zwischen 2018 und 2022 um 27 Prozent auf 33.696 an. Fachleute gehen davon aus, dass die Dunkelziffer, also die Fälle, die nie bekannt werden, erheblich höher liegt.
Ideen im Kampf gegen häusliche Gewalt
Die SPD-Landtagsfraktion fordert die NRW-Landesregierung auf, den Schutz für Opfer von häuslicher Gewalt zu verbessern. Dazu gehören mehr Schutzplätze in Frauen-, Männer- und Mädchenhäusern, mehr Fortbildungen bei der Polizei, ein Herabsetzen der Schwelle für eine Wohnungsverweisung, die Übermittlung von Opfer-Daten an Beratungsstellen auch ohne Einwilligung der Betroffenen sowie die Erhellung des Dunkelfeldes bei häuslicher Gewalt.
Häusliche Gewalt: Warum gibt es so wenige Schutzplätze für Frauen in NRW?
Ein weiteres Problem ist die unzureichende Zahl von Schutzplätzen in Frauenhäusern in NRW. Laut der Istanbul-Konvention -- das ist das europäische Übereinkommen zur Verhütung von häuslicher Gewalt -- müsste es in NRW 1800 Schutzplätze in Frauenhäusern geben. Es seien aber nur 680, kritisieren die Landtagsabgeordneten Anja Butschkau und Christina Kampmann (beide SPD).
NRW-Gleichstellungsministerin Josefine Paul (Grüne) erklärt in einem Bericht an den Landtag, dass sie zusammen mit dem NRW-Innenministerium prüfe, wie Opfer häuslicher Gewalt künftig besser über Schutz- und Hilfsangebote beraten werden könnten. Schon heute informiere die Polizei die Opfer während und nach einem Einsatz und gebe die Kontaktdaten an Beratungsstellen weiter, wen die Betroffenen dies wünschten.
Häusliche Gewalt: Fortschritt in der EU. Einheitliche und härtere Strafen möglich
Die Europäische Union hatte sich im Februar darauf geeinigt, sexuelle und häusliche Gewalt künftig einheitlich und schärfer zu bestrafen. „Heute machen wir den ersten Schritt, um Europa zum ersten Kontinent der Welt zu machen, der Gewalt gegen Frauen beseitigt“, sagte damals die Verhandlungsführerin des EU-Parlaments, Frances Fitzgerald.
Andreas Derks, Erster Hauptkommissar bei der Bochumer Polizei, ist seit mehr als 20 Jahren Experte im Kampf gegen häusliche Gewalt. Er hat dazu mehrere Bücher geschrieben, bildet Polizistinnen und Polizisten aus und war zwischen 2015 und 2017 Mitglied einer Landesarbeitsgruppe „Häusliche Gewalt“. Mit Matthias Korfmann sprach er darüber, wie schwer es ist, Täter aus der Wohnung zu verweisen und Opfer zu schützen.
Herr Derks, laut der Kriminalstatistik steigt die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?
Andreas Derks: Ob dahinter eine Zunahme steckt, ist schwer zu sagen. Ich glaube, dass die Menschen sensibler geworden sind bei diesem Thema und Fälle heute eher melden. Sie sie sind auch viel besser informiert. Es kommt vor, dass ein Gewaltopfer der Polizei sagt: Verweisen Sie ihn für zehn Tage aus der Wohnung. Die 2002 in NRW eingeführte Möglichkeit der Wohnungsverweisung hat sich inzwischen herumgesprochen. Früher waren die Täter völlig verdutzt, wenn die Polizei ihnen sagte, sie müssten die Wohnung verlassen.
Hat die Isolation der Menschen während der Pandemie die häusliche Gewalt verstärkt?
Andreas Derks: Darüber wurde viel berichtet. Mein subjektives Empfinden als Polizist ist anders. Ich habe damals nicht mehr Einsätze wegen häuslicher Gewalt gehabt.
Wie gut ist die Polizei auf häusliche Gewalt vorbereitet?
Andreas Derks: Der alte Erlass aus dem Jahr 2002 zu häuslicher Gewalt wurde zum 1. März 2024 durch einen aktuellen ersetzt. Neu ist jetzt das Thema Risikobewertung. Sie lehnt sich an Artikel 51 der Istanbul-Konvention an, also an das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung von häuslicher Gewalt. Risikobewertung heißt, dass die Polizei über die zehn Tage Wohnungsverweisung hinausblickt und abschätzt, wie groß die Gefahr danach noch sein könnte und ob die Gefahr einer Eskalationstat droht.
Was heißt das in der Praxis?
Andreas Derks: Andere Staaten und Bundesländer wie NRW verwenden heute Risikoanalysemodelle für häusliche Gewalt. Da werden die Opfer zum Beispiel gefragt, ob ihnen schon früher Gewalt angetan wurde, ob sie der Täter mit dem Tod bedroht hat, ob gemeinsame Kinder im Haushalt wohnen. Je mehr Risiken zusammenkommen, desto klarer ist, dass zehn Tage Trennung wohl nicht reichen. Einige Opfer wissen selbst nicht, wie gefährlich es für sie noch werden kann.
Die SPD-Landtagsfraktion beklagt, dass die Schwelle für eine Wohnungsverweisung in NRW zu hoch sei. Stimmt das?
Andreas Derks: Das stimmt. Stellen Sie sich diesen Fall vor: Ein Mann ohrfeigt zweimal seine Frau. Die Polizei trifft eine halbe Stunde später ein. Das Ehepaar sitzt ruhig da, die Lage ist ruhig. Nun müssen die Beamten bewerten, ob die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit noch „gegenwärtig“ ist, also ob jederzeit neue Gewaltausbrüche drohen, um den Mann der Wohnung zu verweisen. Das ist oft ein Problem, denn Gerichte erwarten dafür klare Hinweise, zum Beispiel schwere Verletzungen oder Wiederholungstaten .Länder wie Bremen, Hamburg, Berlin und Rheinland-Pfalz haben die Schwelle abgesenkt, indem sie allgemein die „Gefahr“ und nicht nur die „gegenwärtige Gefahr“ prognostizieren. Das erleichtert die Prognose sehr. Neben der Schwere der Verletzung geht es nämlich auch um andere Dinge. In der Öffentlichkeit kursiert der Spruch „Wer schlägt, der geht“, und das ist auch der politische Wille. Aber das reicht nicht. Was ist, wenn ein Mann die ganze Wohnung zertrümmert, die Frau aber nicht angerührt hat? Dann steht die Polizei vor der schwierigen Frage, ob sie den Mann aus der Wohnung verweisen kann oder nicht. Die heutige Rechtslage in NRW lässt das, natürlich den Einzelfall betrachtend, oftmals nicht zu.
Werden Polizistinnen und Polizisten in NRW gut auf die Begegnung mit häuslicher Gewalt vorbereitet?
Andreas Derks: Das gehört natürlich zur Ausbildung, und der neue Erlass kann die Risikobewertung erleichtern. Allerdings ist der Fortbildungsbedarf weiter groß. Fälle häuslicher Gewalt sind alltäglich im Polizeidienst, aber es gibt zum Teil große Unterschiede zwischen Städten und zwischen Stadtteilen. In Ballungsgebieten ist das Problem größer, zum Beispiel in den Ruhrgebietsstädten, in Köln und Düsseldorf.
Wie eindeutig sind die Situationen, die Sie antreffen?
Andreas Derks: Oft sind sie mehrdeutig. Wir haben es häufig mit wechselseitiger Körperverletzung zu tun. In der Öffentlichkeit wird immer von dem Täter und dem Opfer gesprochen, aber das ist nicht immer leicht zu trennen. Egal ob bürgerliche oder prekäre Familie: Es kommt vor, dass sich Partner gegenseitig treten und schlagen.
Was machen Sie dann?
Andreas Derks: Fest steht, dass einer von beiden dann die Wohnung verlassen muss. Dann wird der verwiesen, den wir am besten woanders unterbringen können, zum Beispiel bei Verwandten.
Laut der SPD-Landtagsfaktion dürfen Polizisten in Niedersachsen Daten des Gewaltopfers auch ohne dessen Einwilligung an Beratungsstellen geben. Wäre das für NRW sinnvoll?
Andreas Derks: Die Polizei NRW gibt diese Daten nicht unaufgefordert an Nichtregierungsorganisationen weiter, und das sollte auch so bleiben. Wir schalten allerdings den kriminalpolizeilichen Opferschutz ein, und der bietet den Betroffenen auch ohne deren Aufforderung Hilfe an.
Laut der Istanbul-Konvention müsste es in NRW 1800 Schutzplätze in Frauenhäusern geben. Es sind aber nur 680. Wie groß ist der Mangel an Schutzplätzen?
Andreas Derks: Aus der Sicht des Praktikers kann ich nur sagen, dass er Mangel dramatisch ist. Da kommt zum Beispiel ein verängstigtes Opfer mit gepackten Koffern und zwei Kindern in eine Polizeiwache und bittet um Vermittlung in ein Frauenhaus. Dann suchen wir landesweit nach freien Plätzen, und dass dauert manchmal ewig lange, besonders an Wochenenden. Wir mussten auch mal eine Dame aus Bochum in Bielefeld unterbringen, andere Plätze gab es nicht.
Inzwischen gibt es auch Schutzplätze für Männer in NRW. Wie groß ist hier die Nachfrage?
Andreas Derks: Laut den Statistiken ist das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Opfern 4 zu 1. Männer, denen von Partnern oder Verwandten Gewalt angetan wird, brauchen sich nicht zu schämen, im Notfall die Polizei zu rufen. Wir nehmen das sehr ernst .Ich habe in 20 Jahren Streifendienst aber noch keinen Mann angetroffen, der gesagt hat, er wolle aus Angst vor der Partnerin die Wohnung verlassen. Die Hemmschwelle ist bei Männern sehr hoch. Anders und potenziell gefährlicher ist es übrigens, wenn es bei einem familiären Streit um Ehrverletzung geht.
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