Berlin. Es gibt immer weniger Überlebende der Shoah. Das ist ein Problem für Schulen. Tiktok und Influencer können die Lücke kaum füllen.
Margot Friedländers Appell an die jungen Menschen in Deutschland ist eindeutig: Übernehmt von mir und den anderen Überlebenden des Holocaust, was wir nicht mehr lange können. „Was gewesen ist, können wir nicht ändern“, sagte die 102-Jährige kürzlich in einem Interview. Ihre Bitte an die junge Generation sei, „dass ihr die Zeitzeugen sein sollt, die wir nicht mehr sehr lange sein können“. Die Geschichte dürfe sich nicht wiederholen, mahnt Friedländer: „Es ist in eurer Hand, dass ihr vorsichtig seid.“
Friedländer kam 1921 in einer jüdischen Familie in Berlin zur Welt, ihre Eltern und ihr Bruder wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Sie selbst überlebte den Holocaust im Konzentrationslager Theresienstadt, emigrierte nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA. Als 88-Jährige kehrte sie nach Berlin zurück, war seitdem trotz ihres hohen Alters unermüdlich unterwegs, um in Schulen und anderen Einrichtungen von den Gräueltaten der Nazis zu berichten.
An diesem Samstag wird weltweit der Internationale Holocaust-Gedenktag begangen. Er findet seit 2005 jedes Jahr statt, das Datum 27. Januar erinnert an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee im Jahr 1945. Auch im Deutschen Bundestag wird es eine Gedenkveranstaltung geben, und zwar am kommenden Mittwoch. Bei ihr werden unter anderem die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi und der Sportjournalist Marcel Reif sprechen. Reifs Vater entging der systematischen Ermordung der europäischen Juden durch Nazi-Deutschland nur knapp: Er wurde in letzter Sekunde aus einem Deportationszug gerettet.
NS-Zeit: Aus Sicht der Schüler mitunter so weit weg wie die Antike
Das offizielle Gedenken an den Holocaust und die rund sechs Millionen Opfer sind das eine. Doch je länger die historischen Ereignisse zurückliegen und je weniger Zeitzeugen noch berichten können von dem monströsen Menschheitsverbrechen, desto schwieriger wird es, die Erinnerung in der Breite der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. In einer Zeit, in der Rechtsextreme neue Deportationspläne entwerfen und angesichts des Gaza-Kriegs wieder im großen Stil antisemitische Parolen auf deutschen Straßen gebrüllt werden, ist das ein erhebliches Problem: Es geht auch um das Selbstverständnis der Bundesrepublik, die explizit als Gegenentwurf zum NS-Staat gegründet wurde. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sagt: „Das Leid von Jüdinnen und Juden ist nicht Geschichte. Gegen Antisemitismus und Judenhass vorzugehen, ist leider aktueller und notwendiger denn je.“
Weltweit gibt es zurzeit noch etwa 245.000 Überlebende des Holocaust. Rund 14.000 von ihnen leben einer Studie der Jewish Claims Conference zufolge in Deutschland. Das Durchschnittsalter der Überlebenden liegt bei 86 Jahren. In einigen Jahren wird es keine Zeitzeugen mehr geben, die persönlich über die Schrecken Zeugnis ablegen können, die ihnen und ihren Familien von den Nationalsozialisten angetan worden sind.
Für Lehrer und andere Akteure der politischen Bildung ist dies eine immense Herausforderung. „Kamen vor zehn oder 20 Jahren zu den Gedenktagen noch Hunderte Überlebende, sind es heute nur noch eine Handvoll“, erzählt Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, dieser Redaktion.
Wie also sollten Gedenktage in Zukunft aussehen? Wie können Lehrer jungen Deutschen die Geschichte nahebringen, wenn die Zeit von 1933 bis 1945 in immer weitere Ferne rückt?
„Wir müssen uns große Mühe geben, das Thema immer wieder neu auf die Füße zu stellen, damit es aus Sicht der Jugendlichen nicht so weit entfernt erscheint wie die Antike“, sagt Niko Lamprecht, der dem Verband der Geschichtslehrer in Deutschland vorsitzt und ein Gymnasium in Wiesbaden leitet. Lamprecht ergänzt: „Je länger die NS-Zeit und der Holocaust zurückliegen, desto schwieriger wird es für uns Lehrkräfte, einen Bezug zum Leben der Schülerinnen und Schüler herzustellen.“
Erinnerung: „Nicht nur in den in den Sozialen Medien, sondern auch im Sportverein oder der Musikschule“
In den 1970er, 80er und 90er Jahren habe der Geschichtsunterricht immer noch Schüler mit der Frage konfrontiert, wie sich ihre Eltern und Großeltern während der Nazi-Zeit verhalten hatten. „Das ist heute zwangsläufig nicht mehr der Fall“, sagt der Pädagoge. Es gehe darum, den Nationalsozialismus und den Holocaust so zu behandeln, dass nicht nur Wissen eingeflößt und abgehakt wird. Die jungen Leute seien im Internet. Dort gebe es viele interessante und – sofern Fachleute die Projekte begleiten – auch seriöse Ansätze, um historische Vorgänge begreifbar zu machen. „Ein Ersatz für den Umgang mit analogen Texten beziehungsweise Quellen können sie aber nicht sein.“
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagt: „Wir müssen neue Formate finden, um die breite Bevölkerung und insbesondere die junge Generation emotional anzusprechen – als Garant und Fundament für eine tragfähige, demokratische Gesellschaft.“ Eine besondere Verantwortung sieht er bei den Gedenkstätten: „Sie sollten digitaler und auch mobiler werden, um gerade junge Menschen da ‚abzuholen‘, wo sie sich gerne aufhalten – und zwar nicht nur in den Sozialen Medien, sondern auch ganz real im Sportverein oder in der Musikschule.“
Ist die Zukunft des Holocaust-Gedenkens also vor allem digital? Kann das Smartphone die Begegnung mit Zeitzeugen und den Besuch von Original-Schauplätzen der Geschichte ersetzen? Auf YouTube und anderen Plattformen gibt es jede Menge Erklärfilme zum Thema. Sie sind leicht zu konsumieren und oft kurzweiliger als der Geschichtsunterricht.
Der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, Meron Mendel, dämpft die Erwartungen: Vor allem über soziale Medien würden Halbwahrheiten und falsche Narrative verbreitet. „Wir dürfen politische Bildung nicht Tiktok-Creatorn und Insta-Influencern überlassen“, sagt er. Gleichwohl müsse man auf diesen Plattformen präsent sein. An manchen Stellen müsse die Komplexität reduziert und die Ansprache geändert werden. „Wenn wir nicht auf die wenigen Prozente abzielen, die sowieso Bücher lesen, kommen wir da nicht drumherum.“ Die Hoffnung sei, dass über diese niedrigschwellige Ansprache das Interesse geweckt werde, sich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen.
Gedenken: So lassen sich Vergangenheit und Gegenwart verbinden
Der Fokus der Arbeit an den Orten der ehemaligen Konzentrationslager wiederum werde in Zukunft noch stärker auf der Bildungsarbeit und weniger auf der Trauer und dem Gedenken liegen, meint Buchenwald-Stiftungsleiter Wagner. Es gehe um Fragen wie die, wer die Täter waren, wer die Opfer und wie die Diktatur und die nationalsozialistische Gesellschaft funktioniert haben. Mit den Antworten ließen sich Bezüge zur Gegenwart herstellen: Wer propagiere heute Rassismus, Antisemitismus und autoritäres Denken?
„Damit sind wir inmitten heutiger Debatten angesichts des Erstarkens der AfD“, sagt Wagner. Durch die Diskussion über Bezüge zwischen dem Nationalsozialismus und aktuellen Ereignissen werde das Interesse junger Menschen geweckt. „Das gilt auch für Besucher, die erst einmal mit einer ‚Null Bock‘- oder ‚Interessiert mich nicht‘-Haltung zu uns kommen“, stellt der Stiftungsleiter fest. „Aber mit ritualisierten, pathoshaften Beschwörungsformeln und der klassischen Kranzniederlegung wird man junge Menschen nicht hinter ihrem Smartphone hervorholen.“