Hamburg. Der Ex-Grüne Boris Palmer eckt oft an. Ein Gespräch mit dem Tübinger über die Lage der Nation, Thomas Gottschalk und Luisa Neubauer.
Das Städtchen Tübingen mit seinen rund 92.000 Einwohnern ist nicht unbedingt der Nabel der Welt: Aber ihr Oberbürgermeister Boris Palmer strahlt weit über die Grenzen des Neckarstädtchens hinaus – einerseits weil er aufgrund seiner zuspitzenden Art ein regelmäßiger Gast in Talkshows ist, andererseits weil er sich mit seiner eigenen Partei überworfen hat. Palmer war von 1996 bis 2023 Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen. Wegen wiederholt umstrittener Aussagen beschlossen die Grünen 2021 ein Parteiausschlussverfahren, in diesem Jahr trat Palmer von sich aus ab.
Sein Ärger mit der Partei schadet ihm indes nicht – vor einem Jahr gewann der 51-Jährige als parteiloser Kandidat die Oberbürgermeisterwahl in Tübingen mit der absoluten Mehrheit von 52,4 Prozent der Stimmen. Palmer ist Ökologe der ersten Stunde und hat seine Stadt zum Modell für CO2-Reduktion gemacht. Während der Pandemie gehörte er zu den Kritikern rigider Corona-Maßnahmen, führte aber zugleich als einer der ersten Lokalpolitiker kostenlose Schnelltests für Bewohner und Besucher von Heimen, FFP2-Masken und einen subventionierten Taxi-Service für Senioren ein. Er hält eine Begrenzung der Migration für geboten. Aufgrund seiner Wortwahl, die auch das N-Wort einschloss, löste er immer wieder Proteste aus. Inzwischen lässt er sich coachen.
Zwischen den Jahren schaut man zurück. Wie war 2023?
Boris Palmer: Bedrückend. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass unser Land den Belastungen nicht mehr gewachsen ist. Es kommt zu viel zusammen, und alte Versäumnisse holen uns brutal ein. Digitalisierung, Eisenbahn, Zuwanderung, Bürokratie, Energie, Bundeswehr, Demografie – überall nur Baustellen und die Regierung wirkt geradezu blockiert.
Wie empfinden Sie das Meinungsklima in der Republik? Sie selbst sind als Nazi beschimpft worden, haben aber auch kräftig ausgeteilt …
Wir haben ein repressives Meinungsklima. Ich nehme wahr, dass zwischen öffentlicher und echter Rede sich inzwischen Welten auftun – und das ist für eine Demokratie gefährlich. Es ist nicht der Staat, der die freie Rede einschränkt, sondern es sind relevante Gruppen, die Andersdenkende permanent moralisch herabsetzen. Damit wird so viel Druck aufgebaut, dass sich die Menschen gar nicht mehr äußern.
Oder mit Protest: Inzwischen kommt die in Teilen rechtsextreme AfD in Umfragen auf Werte, die weit größer sind als ihr eigentliches Potenzial.
Ja, das ist eine Form der Reaktanz, eine Art Trotzreaktion. Die Leute wehren sich gegen die Verengung des Diskurses – und verlassen ihn. Das zahlt bei der AfD ein: Die Hürde, sich zur AfD zu bekennen oder sie gar zu wählen, wird immer kleiner. Diese Leute zeigen aber nicht der Demokratie den Stinkefinger, sondern der Begrenzung des zulässigen Meinungskorridors. Da werden abweichende Meinungen stigmatisiert und diskreditiert. Und die Menschen gleich mit.
Wie sieht eine Strategie dagegen aus?
Wir haben ein doppeltes Problem: Auf der einen Seite gibt es die Verengung des Meinungskorridors, auf der anderen Seite durch die Rechte eine Erweiterung des Sagbaren, etwa wenn Alexander Gauland den Faschismus als „Vogelschiss“ abtut oder Björn Höcke regelmäßig Hitler-Zitate abwandelt. Das macht es noch schwieriger, vernünftig zu streiten.
Ziehen sich deshalb viele Menschen zurück?
Der Rückzug ins Private ist nachvollziehbar, weil viele sich den Ärger und die Belehrung durch die politisch Korrekten nicht antun möchten. Erst kürzlich hat sich sogar Thomas Gottschalk mit einem Satz von „Wetten, dass …?“ verabschiedet, der uns aufhorchen lassen sollte. Er sagte: „Inzwischen rede ich zu Hause anders als im Fernsehen. Und das ist auch keine dolle Entwicklung. Bevor hier irgendein verzweifelter Aufnahmeleiter hin- und herrennt und sagt, du hast wieder einen Shitstorm hergelabert, dann sage ich lieber gar nichts mehr.“ Wollen wir das?
Manche wollen das ...
Ja, leider. In Medien und Werbung dominieren die „Woken“ – die Erweckten oder Auserwählten. Schon die Begriffe zeigen, dass sich manche auf einer höheren Stufe des Bewusstseins wähnen und den Zugang zur Wahrheit haben – und die anderen eben nicht. Damit gelingt keine Diskussion mehr, das gleicht einer Mission. Statt den Streit auf Augenhöhe zu führen, steht schon vorher fest, wer recht hat. Und wer es anders sieht, wird zum Ketzer und muss bekehrt werden. Das besonders Bittere: Das passiert in Milieus, die die Basis der offenen, liberalen Gesellschaft waren: bei den Hochgebildeten, den Journalisten, den Universitäten. Ausgerechnet sie schlagen nun dem illiberalen Denken eine Bresche.
Sie waren lange bei den Grünen. Die Partei war ein Marktplatz der Debatten und eine Heimat der Unangepassten. Erkennen Sie die Grünen noch wieder?
Darüber habe ich viel nachgedacht. Ich erinnere mich noch an die Debatten zwischen Joschka Fischer und Jutta Ditfurth, da prallten Weltanschauungen aufeinander. Ich wundere mich, welche kleinsten Abweichungen heute als rassistisch diffamiert werden. Die US-Ideologien des Woken, des Postkolonialismus, der Identitätspolitik sind längst zu uns herüberschwappt. Inzwischen geht die Entwicklung so weit, dass Transgender-Aktivisten Feministinnen aus dem Diskurs ausschließen – oder ich als Ökologe ausgegrenzt werde, weil meine Positionen zu Postkolonialismus oder Einwanderung missfallen. Es gibt einen neuen Theorie-Überbau, dem alles andere untergeordnet wird.
Was soll daran so schlimm sein?
Der Gleichheitsgrundsatz wird über Bord geworfen, Menschen werden in Opfergruppen unterteilt. Da geht es um moralische Reinheit. Mehrheiten zum Schweigen zu bringen, gelingt besonders effektiv, wenn man sich auf Verletzungen beruft oder sich als Anwalt vermeintlich verletzter und besonders schutzbedürftiger Minderheiten aufführt. Wer an einer Auffassung oder auch nur an einem Wort festhält, das angeblich solche Verletzungen hervorruft, wird zum Menschenfeind abgestempelt. Das ist sehr effektiv. Denn niemand kann die Verletzungen überprüfen, sie sind rein subjektiv. Man muss dann für seine Meinung keine Argumente mehr vortragen, sondern verlangt einen Schutz vor Verletzungen. Leichter kann man seine Position gar nicht durchsetzen. Nur zerstört man damit den Diskurs und die Fähigkeit zum Kompromiss. Auf die Dauer hält das keine Demokratie aus.
Das zeigt sich in den USA. Der Triumph von Donald Trump bewertete die Heinrich-Böll-Stiftung 2016 so: „Wir haben offensichtlich ein massives Problem mit der Selbstbezogenheit der progressiven Eliten. Das liberale Establishment in den USA hat das Verständnis vom eigenen Land, von großen Teilen der eigenen Gesellschaft verloren.“
Das stimmt. Hillary Clinton hat den Weg zur Wahl von Donald Trump geebnet, weil sie große Teile der Gesellschaft gar nicht mehr angesprochen hat. Wir müssen aufpassen, dass wir hier nicht auch noch den USA nacheifern. Es wäre klug zu schauen, welchen Beitrag die Linke zu dieser Entwicklung beigesteuert hat. Wir glauben, die Rechten erfolgreich damit zu bekämpfen, indem wir immer mehr Geld in Stiftungen stecken, die sich dem Kampf gegen rechts verschrieben haben wie die Amadeu-Antonio-Stiftung. Aber ich fürchte, das hilft nicht. Ganz im Gegenteil.
Was ist denn am Kampf gegen rechts auszusetzen?
Die Menschen lassen sich nur ungern von ihrer eigenen Dummheit überzeugen. Und aus dem Kampf gegen Rechtsextremismus wurde ein Kampf gegen rechts. Diese Erweiterung ist gefährlich. Sie führt zu Reaktanz bei den Bekämpften. Und bei den Kämpfern legitimiert sie repressive Methoden, die gegen Rechtsextremisten angebracht sind, aber in keinem Fall bei verfassungstreuen Rechtskonservativen.
Was stimmt Sie zuversichtlich?
Ich nehme derzeit gegenläufige Tendenzen wahr. Politische Debatten verlaufen oft im hegelschen Sinne dialektisch. Das Pendel schwingt in einer Richtung aus, dann kommt die Gegenbewegung. Das könnte gerade passieren. Immer mehr Menschen erkennen, dass wir so nicht weiterkommen. Vor den Demonstrationen für ein Kalifat und den Neuköllner Freudentänzen nach dem Massaker des 7. Oktober wurden Wissenschaftlerinnen wie Prof. Susanne Schröter der Islamfeindlichkeit bezichtigt oder als Rassisten abgestempelt, weil sie auf Probleme mit Antisemitismus oder Frauenfeindlichkeit bei muslimischen Migranten hingewiesen haben. Nun wird das endlich offen angesprochen, und Versuche, das zu diffamieren, scheitern. Wir müssen nur schauen, dass das Pendel nicht zu weit in die andere Richtung ausschlägt.
Hegen Sie die Hoffnung, dass der vielerorts ausgerufene Kulturkampf abgeblasen wird?
Schön wär‘s. Denn dieser Kulturkampf ist zerstörerisch für alle.
Sie haben kürzlich Luisa Neubauer gewarnt: „Wer einen Kulturkampf aus dem Klimaschutz macht, stellt nur sicher, dass wir ihn verlieren.“
Luisa Neubauer hatte geschrieben, wir befänden uns in einem Kulturkampf am Ende der fossilen Ära. Wie die Grünen entfernen sich „Fridays for Future“ von ihren ökologischen Grundwerten. Es ist klar, dass die politisch Engagierten links sind. Aber es geht so weit, dass die Organisatoren der „FfF“-Demo in Tübingen mir mitgeteilt haben, dass sie mich nicht dabeihaben wollen. Der Oberbürgermeister der eigenen Stadt soll einer Klimaschutzdemonstration fernbleiben! Dabei habe ich als einer der Ersten dieses Thema kommunalpolitisch angepackt.
Warum wollte man Sie nicht dabeihaben?
Da geht es um andere Fragen: Manche Demonstranten hätten sich wegen meiner Aussagen in ihren Gefühlen verletzt gefühlt, hieß es. Das müsse man vermeiden. Für eine Klimaschutzdemo ist das eine harte Aussage: Lieber will man einen engagierten Klimaschützer verlieren als die eigene identitäre Ideologie infrage zu stellen. Wokeness wird wichtiger als Klimaschutz. Das führt zur Radikalisierung, wenn Strömungen wie Antikolonialismus oder Antikapitalismus entscheiden und der Klimaschutz untergeordnet wird. Inzwischen gehören auch Autokonzerne, die auf Elektromobilität umstellen, zum Reich des Bösen. Und man gerät, wie Greta Thunberg zeigt, in antisemitische Fahrwasser. Ich habe wirklich Sorge, dass die Klimaschutzbewegung gekapert wird.
Waren Sie denn bei der Demo dabei?
Natürlich bin ich mitgelaufen. Und ich habe nur Leute getroffen, die sich über diese Unterstützung des Oberbürgermeisters gefreut haben. Als Luisa Neubauer ihre These vom Kulturkampf in Tübingen vorgestellt hat, habe ich einen langen Brief geschrieben und versucht, meine Sorgen mitzuteilen und im Gespräch zu bleiben. Daraufhin hat sie auf Twitter geantwortet, ich hätte offenbar ihre Rede nicht verstanden. Das war alles. Zwei weitere Schreiben hat sie auch nicht beantwortet. Ist das der Umgang, der uns und den Klimaschutz weiterbringt?