Berlin. Kinder und Jugendliche werden in vielen Fällen nur unzureichend von Jugendämtern geschützt. Auch vor Gericht läuft oft einiges schief.
Wenn Kinder sterben, weil sie zu Hause schwer misshandelt wurden, wenn mehrfacher schwerer sexueller Missbrauch ans Licht kommt, dann geraten auch die Jugendämter ins Visier der Öffentlichkeit. Was wurde übersehen? Wurden Familien genügend unterstützt? Was lief schief bei der Betreuung? Die unabhängige Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs hat in einer Fallstudie die Arbeit in den Jugendämtern und ihre Zusammenarbeit mit der Justiz untersucht. Zwischen August 2021 und Juli 2023 wurden dazu Anhörungen von betroffenen Kindern und Jugendlichen ausgewertet, Jugendamtsakten analysiert und Experten aus der Fachpraxis interviewt.
Die zentrale Erkenntnis: Hilfe, die möglich gewesen wäre, ist in bestimmten Fällen ausgeblieben. Betroffene Kinder und Jugendliche seien grundsätzlich bereit gewesen, sich einer Fachkraft des Jugendamtes anzuvertrauen – aber das nötige Vertrauen konnte nicht hergestellt werden. Und auch die Gerichte, die in Sorgerechtsprozessen darauf getrimmt seien, beiden Elternteilen den Umgang zu ermöglichen, bieten von Gewalt und Missbrauch bedrohten Kindern oft keinen Schutz.
Missbrauch: „Du kommst ins Heim“ – mit diesem Satz drohen Täter
„Du kommst ins Heim“: Das ist der Satz, mit dem Täter oft Kinder so stark manipulieren, dass sie den Gang zum Jugendamt scheuen. Dabei gebe es durchaus positive Hilfsverläufe, sagt Barbara Kavemann, Mitglied der Aufarbeitungskommission. Jugendämtern gelinge es oft nicht, sexuelle Gewalt zu erkennen und zu helfen, die Angst vor dem Amt zu überwinden. Die Drohkulisse, die Täter mit der Drohung „du kommst ins Heim“ aufbauten, sei größer. Aus diesen klaren Defiziten müsse dringend gelernt werden.
Für Sabine Andresen, Präsidentin des Kinderschutzbundes, ist die Angst vor dem Jugendamt ein großes, aber auch sehr altes Thema. „Kinder, Jugendliche und Eltern denken, das Jugendamt ist eine Kinder-Wegnehm-Institution“, sagte sie dieser Redaktion. Und damit die letzte Instanz, an die sie sich wenden könnten. „Daran verzweifeln auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“
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Fachkräftemangel auch für Jugendämter ein Problem
Barbara Kavemann, Mitglied der Aufarbeitungskommission, setzt nun auf eine bessere Fort- und Weiterbildung der Fachkräfte im Jugendamt. Doch dazu müssten erst mal genügend Mitarbeiter da sein: „Das größte Problem der Jugendämter ist derzeit sicherlich der eklatante Fachkräftemangel“, beschreibt Kinderschutzpräsidentin Andresen die Lage. Die Folge: „Wenn sich der Missbrauchsverdacht bestätigt, dauert es viel zu lang, bis Kindern und Jugendlichen geholfen wird.“
Für Thomas Meysen, Co-Autor der Studie, müsse sich das Bewusstsein der Fachkräfte schärfen: Wenn ein Kind, ein Jugendlicher, die hohe Hürde überwinde und sich an das Jugendamt wende, dann müsse klar sein, „dass es in diesen Momenten nichts Wichtigeres gibt, als sich ihnen anzunehmen und ihnen Angebote zu machen.“
Sorgerecht: Wenn Müttern „Missbrauch mit dem Missbrauch“ vorgeworfen wird
Besonders erschüttert zeigte sich Meysen aber, dass die Gerichte bei Sorgerechtsprozessen den Schutz von Kindern und Jugendlichen nicht zu ihrer Priorität machten. „Der Umgang zu beiden Elternteilen hat vor Gericht einen sehr hohen Wert“, erklärt er. „Wenn Mütter oder Geschwister das Thema Gewalt und Missbrauch vorbringen, stört das.“ An der Priorität, Vätern unbedingt den Umgang zu ermöglichen, ändere sich nichts, so seine Erfahrung. Die Mütter, die in der Studie zu Wort kommen, machten sogar die Erfahrung, dass ihnen „Missbrauch mit dem Missbrauch“ oder gezielte Entfremdung vorgeworfen wurde. Mit der Folge, dass das Kind, das Angst vor dem Vater hat, gezwungen werde, ihn zu treffen.
Kinderschutzexpertin Sonja Howard fordert angesichts der aktuellen Studie: „In Jugendämtern und Familiengerichten muss sofort Schluss sein mit dem Credo ‚Umgang über alles‘.“ Und mit dem Glauben, dass Kinder unbedingt beide Elternteile für ein gesundes Aufwachsen brauchten. „Nein, Kinder brauchen definitiv keine Elternteile, bei denen sie sich massiv unwohl und unsicher fühlen“, sagte sie dieser Redaktion – und keine Eltern, die ihnen Angst machten, keinen Vater, der die Mutter gedemütigt und misshandelt habe. Das gelte auch für Kinder in Pflegefamilien, die regelmäßig zum Umgang mit leiblichen Eltern gezwungen würden, so Expertin, die auch Mitglied im „Nationalen Rat“ der Bundesregierung gegen Kindesmissbrauch ist.
„Das gemeinsame Sorgerecht funktioniert nur bei wenigen Familien gut“
Soziologin Christina Mundlos, die Frauen in Trennungsphasen berät, kommt zum Schluss: „Das gemeinsame Sorgerecht funktioniert nach einer Trennung nur bei wenigen Familien gut. Insbesondere wenn Väter aber das alleinige Sorgerecht beanspruchen, obwohl sie sich bis zur Trennung kaum um die Kinder gekümmert haben, sollten alle Verfahrensbeteiligten hellhörig werden.“ Sie erreichen Berichte, wonach Müttern von Familienrichtern gedroht worden sei, ihnen die Kinder zu entziehen, wenn sie weiter von häuslicher Gewalt sprächen oder diese gar bei der Polizei anzeigten.
Ähnliche Äußerungen werden auch in der Studie zitiert – und sie sind auch Sabine Andresen bekannt. Die Kinderschutzpräsidentin betont, das Wechselmodell setzte voraus, sich gut abzustimmen. „Wer kauft die Winterschuhe? Wer übt für die Spanisch-Arbeit? Wer kann das Kind zum Turnier begleiten? Wenn sich Eltern gar nicht verstehen, wird es kaum klappen. Dann ist das Wechselmodell nicht im Sinne des Kindeswohls.“
Kritisch sieht Andresen daher auch die Pläne von Marco Buschmann (FDP). Der Bundesjustizminister will mit der Reform des Unterhaltsrechts die partnerschaftliche Betreuung minderjähriger Kinder nach einer Trennung fördern und Unterhalt zahlende Väter entlasten, wenn sie einen nennenswerten Anteil an der Betreuung haben. „Man muss genau prüfen, wie und in welchem Maße eine Reform des Unterhaltsrechts Kinder und Jugendliche und deren Rechte und Interessen ins Zentrum zu stellen vermag.“
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