Vor 60 Jahren kamen die ersten Carrera-Bahnen auf den Markt. Technisch hat sich einiges verändert. Ein Problem aber ist bis heute geblieben
„Für meinen Sohn“, sagen Väter an der Kasse des Spielzeuggeschäftes. Doch das ist fast immer nur die halbe Wahrheit. Denn auf dem Karton steht „Carrera“. Und damit haben viele Väter als Kind selbst gespielt. Vor 60 Jahren lagen die Bahnen erstmals unter deutschen Weihnachtsbäumen. Und bis heute ist Carrera für die meisten Deutschen das Synonym für Slot-Car-Rennbahnen. So wie sie zu jedem Papiertaschentuch „Tempo“ sagen.
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Anders aber als viele glauben, ist Carrera keine deutsche Erfindung. Es ist die englische Firma Scalextric, die bereits 1957 erstmals Autos mit „beweglichem Leitkiel und Stromabnehmern auf geschlitzte Fahrspuren mit zwei Leiterbahnen zur Stromversorgung“ setzt. Auf einer Ausstellung in den USA entdeckt der Fürther Hermann Neuhierl das neue System und ist begeistert. Lange schon sucht er nach einer Idee, um die vom Vater geerbte Spielzeugfabrik nach oben zu bringen. Neuhierl modifiziert das System ein wenig und bringt es in Deutschland unter dem Namen „Carrera“ auf den Markt. Dabei wird er von Porsche inspiriert, das den Namen schon damals für besonders stark motorisierte Modelle verwendet. Eigentlich aber ist „Carrera“ nichts weiter als die spanische Vokabel für „Rennen“.
Riesige Werbekampagne für Carrera
Mit einer bis dahin nicht erlebten Marketing-Kampagne drückt Carrera Bahn und Boliden ins Bewusstsein der deutschen Kinder und überhäuft sie mit Katalogen und Gratis-Prospekten. Und kaum hat sich das Fernsehen in den deutschen Wohnzimmern etabliert, flimmert Werbespot um Werbespot für die „Autorennbahn mit Pfiff“ über den Bildschirm. „Experten fahren Carrera“, dröhnt es aus dem TV-Gerät. Mit Erfolg: An der 1966 erfundenen Carrera-Bundesmeisterschaft nehmen rund 600.000 Kinder und Jugendliche teil.
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Als die Konkurrenz – teils sogar mit technisch besseren Produkten – ein Stück vom Kuchen abhaben will, ist der Zug längst abgefahren. Auch weil jeder Hersteller sein eigenes Süppchen kocht und die Autos nur auf Bahnen des jeweiligen Systems um die Wette rasen können. Und Standard ist Carrera – in der Schule wie in der Nachbarschaft. Mal in der Variante „Universal“, mal als 124er-Version. Ende der 60er hat das Unternehmen einen Marktanteil von über 70 Prozent in Deutschland. Begriffe wie Carrera Universal oder Carrera 124 gehören zum Grundwortschatz fast aller Jungen.
Aus dem Spielzeug wird ein Sportgerät
Der Hersteller tut alles, damit das so bleibt und baut die Bahnen immer weiter aus. Bis zu acht Fahrspuren sind bald möglich, es gibt Schikanen, Überholbahnstücke, Kreuzungen, Überführungen, Loopings, Rundenzähler sowie Figuren und Gebäude zur Gestaltung der Strecke. Gestoppt wird der Bau einer Bahn nur noch durch den eigenen Geldbeutel oder resolute Mütter, die nicht mehr ins Kinder- oder Wohnzimmer kommen, ohne Gefahr zu laufen, einen der empfindlichen Rennboliden oder ein Schienenstück zu zertreten. „Junge, räum mal auf hier.“
Bald wird aus dem Spielzeug auch ein Sportgerät. Überall im Land gründen sich Rennclubs, und das Ruhrgebiet ist eine Hochburg für Wettkämpfe mit den kleinen Flitzern. Noch heute gibt es in NRW knapp zwei Dutzend öffentlich zugänglicher Clubbahnen. Eine davon gehört der IG Slotracing Dortmund im Stadtteil Derne. Jeden Donnerstag ist dort Club-Abend. Konzentriert halten Wolfgang „Wolle“ Rimm (63) und Andreas Orgelmacher (45) ihre Kontroller in der Hand und lassen in den Räumen einer ehemaligen Bäckerei zwei Racer über eine fast 32 Meter lange Bahn flitzen.
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Sie alle hier im Club teilen das gleiche Schicksal, haben als Kind eine Carrera-Bahn gehabt, die spätestens nach der Schule in den Keller wanderte. Im Alter aber hat sie die alte Leidenschaft eingeholt. „Slot Cars“, sagt Frank Gregor. „Aber nicht unbedingt von Carrera.“ „Zu empfindlich“, findet sie einer, „nicht robust genug“ ein anderer und ein Dritter bezeichnet sie als „zu langsam“. „Damit kannst du nicht gewinnen.“
Hans Bickenbach muss kurz lachen. Er kann und er hat damit gewonnen. So oft, dass er mehrfach Deutscher Slotcar-Meister war. „Ich fliege selten von der Bahn“, untertreibt der 72-Jährige Apotheker, den sie in der Szene „Urgestein“ oder „Legende“ nennen. Auch nicht mit Carrera. Obwohl die Profis die Magneten ausbauen, die die Autos auf der Bahn halten sollen. „Mit Magneten kann ja jeder.“ Ein paar Tausend Slotcars hat Hans. Von allen Firmen. Nicht zum Angucken, sondern um sie zu fahren. „Mein Vitrine ist die Rennbahn.“
Motor tunen ist verboten
Deshalb hat er an diesem Abend auch eine Auswahl mitgebracht in die Räume der Carrera-Freunde Schwerte. Die einen so wie sie in der Verkaufsbox waren, andere umlackiert. Gern in schwarz-gelb aber auch in blau-weiß. „Ich habe ja nix gegen Schalke“, stellt er klar und lacht. Den Motor tunen könnte er auch, „ist aber verboten“. Mit den Achsen darf man experimentieren oder die Reifen schleifen, um während der sechs Rennrunden ein paar Sekunden zu gewinnen. „Manche nehmen das sehr ernst“, weiß Bickenbach. Auch er will gewinnen, aber „es muss vor allem Spaß machen“.
Jungen Leuten macht es das nicht mehr. Zumindest nicht wettkampfmäßig. Kein Club, der nicht über fehlenden Nachwuchs klagt. „Die fahren lieber am Computer“, weiß Dietmar Kann. „Oder auf der Playstation.“ In den eigenen vier Wänden allerdings ist die Carrera-Bahn wieder angesagt. Nachdem das Unternehmen durch Pillenknick und zu ausuferndes Portfolio in den 80er-Jahren Konkurs anmelden muss und Firmenchef Neuhierl aus dem Leben scheidet, scheint Carrera Spielzeuggeschichte zu sein.
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Frühjahrsputz als größter Feind
Auch unter neuer Führung siecht die Firma vor sich hin, bis Carrera 1999 von der österreichischen Firma Stadlbauer übernommen wird. In Deutschland und Österreich liegt der Marktanteil heute bei 96 Prozent, und die Coronazeit mit Kontakt- und Ausgangssperren hat Carrera auch nicht geschadet. 2022 sei ein Rekordjahr mit einem um zehn Prozent auf 121 Millionen Euro gesteigerten Umsatz gewesen, sagt Firmenchef Stefan Krings. Gefahren - das nur am Rande - wird schon lange auch auf digitalen Bahnen.
Ein Problem aber bleibt. Eine Carrera-Bahn braucht Platz. Und genau davon gibt es im „Hoffnungsmarkt“ China mit seinen oft sehr kleinen Wohnungen viel zu wenig. Man könne die rund 60 verschiedenen Bahn-Sets zwar nicht verkleinern, bedauert Krings, aber es werde versucht, sie leichter aufbaubar zu machen. Ganz im Sinne auch von jungen deutschen Kunden, denn: „Der größte Feind der Carrera-Bahn“, sagt der Firmenboss gerne, „ist der Frühjahrsputz der Mutter nach Weihnachten.“
Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen.Sie sind noch kein Abonnent?Hier geht es zu unseren Angeboten.