Berlin. Mit dem Ex-US-Außenminister ist eine Legende und ein Freund der Deutschen gestorben. Was würde er anders als Annalena Baerbock machen?

Wie würde Henry Kissinger über die aktuelle Politik in Deutschland urteilen? Wir werden es nie erfahren, der letzte geplante Deutschlandbesuch war dem Hundertjährigen nicht mehr möglich. Aber vielleicht hätte er lächelnd eine alte, typische Kissinger-Weisheit wiederholt: „Es liegt an neunzig Prozent der Politiker, dass die anderen zehn Prozent einen schlechten Ruf haben“.

Kissinger zählte sich zu diesen zehn Prozent und die Mächtigen um ihn herum schätzten seine Klugheit. Zweimal Außenminister, offizieller oder inoffizieller Berater von zehn Präsidenten, Analyst und Buchautor bis ins hohe Alter. Nur seine deutsche Herkunft verhinderte den Einzug ins Weiße Haus. Kissingers politisches Werk ist beispiellos. Und die Auseinandersetzung mit seiner Politik ist äußerst lehrreich.

Zum Tod von Henry Kissinger: Sein Leben in Bildern

Besondere Ehre: Zum 100. Geburtstag erhielt Henry Kissinger den Bayerischen Maximiliansorden, überreicht von Ministerpräsident Markus Söder.
Besondere Ehre: Zum 100. Geburtstag erhielt Henry Kissinger den Bayerischen Maximiliansorden, überreicht von Ministerpräsident Markus Söder. © picture alliance/dpa | Daniel Vogl
Erlebte radikalen Wandel: Henry Kissinger bei der Eröffnung des neuen Computer-Lehrstuhls am Massachusetts Institute of Technology.
Erlebte radikalen Wandel: Henry Kissinger bei der Eröffnung des neuen Computer-Lehrstuhls am Massachusetts Institute of Technology. © Boston Globe via Getty Images | Boston Globe
Widersetze sich den Nürnberger Rassegesetzen der Nationalsozialisten: Henry Kissinger auf der World Jewish Congress Herzl Award Gala in New York, im November 2019.
Widersetze sich den Nürnberger Rassegesetzen der Nationalsozialisten: Henry Kissinger auf der World Jewish Congress Herzl Award Gala in New York, im November 2019. © Shahar Azran/Shutterstock | Shahar Azran/Shutterstock
Auch im Ruhestand ein gefragter Gesprächspartner: Henry Kissinger trifft im September 2006 den damaligen Papst, Benedikt XVI.
Auch im Ruhestand ein gefragter Gesprächspartner: Henry Kissinger trifft im September 2006 den damaligen Papst, Benedikt XVI. © AFP | HANDOUT
Unterstützte im Wahlkampf 2000 John McCain: Henry Kissinger und der spätere US-Präsident, George W. Bush.
Unterstützte im Wahlkampf 2000 John McCain: Henry Kissinger und der spätere US-Präsident, George W. Bush. © AFP | ROBERTO SCHMIDT
Kissinger und Prinzessin Diana, bei deren Auszeichnung mit einem Preis für Menschenrechte, im November 1995 in New York.
Kissinger und Prinzessin Diana, bei deren Auszeichnung mit einem Preis für Menschenrechte, im November 1995 in New York. © picture alliance / empics | John Stillwell
Außenpolitiker unter sich: Henry Kissinger und der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher unterhalten sich beim 90. Geburtstag Kissingers.
Außenpolitiker unter sich: Henry Kissinger und der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher unterhalten sich beim 90. Geburtstag Kissingers. © DPA Images | Gero Breloer
Friedensnobelpreisträger: Kissinger und der nordvietnamesische Gesandte Lê Đức Thọ unterzeichneten den Waffenstillstand 1973. Lê Đức Thọ lehnte die Auszeichnung ab – denn der Krieg ging weiter.
Friedensnobelpreisträger: Kissinger und der nordvietnamesische Gesandte Lê Đức Thọ unterzeichneten den Waffenstillstand 1973. Lê Đức Thọ lehnte die Auszeichnung ab – denn der Krieg ging weiter. © AFP | -
Stets auf Reisen, prägte Kissinger den Begriff der Pendeldiplomatie. Hier zu sehen mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt und Außenminister Genscher.
Stets auf Reisen, prägte Kissinger den Begriff der Pendeldiplomatie. Hier zu sehen mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt und Außenminister Genscher. © DPA Images | Georg Spring
Leitete mit Verhandlungen eine Ära der Entspannung zwischen den USA und der Sowjetunion ein: Kissinger trifft den Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Leonid Breschnew.
Leitete mit Verhandlungen eine Ära der Entspannung zwischen den USA und der Sowjetunion ein: Kissinger trifft den Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Leonid Breschnew. © AFP | -
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Säße Kissinger heute im Auswärtigen Amt, würde er die weltpolitische Multikrise und ihre Folgen auf Deutschland zerlegen und begutachten, gemäß seinem Motto, „Probleme muss man kondensieren, wenn man sie lösen will. Erst der Extrakt ist überschaubar.“

Kissinger: Zu Deutschland hegte er ganz besondere Gefühle

Kissingers Politik war immer derart pragmatisch. Die Welt funktionierte in seinen Augen, wenn ihre wichtigsten Bestandteile funktionieren. Zuallererst natürlich Amerika, dann Europa, China, Russland. Kissingers Politik hatte nicht den Anspruch, Werte in andere Systeme zu exportieren. Mit einer feministischen, werteorientierten Außenpolitik hätte er wenig anfangen können. Das weiß auch Annalena Baerbock – und daher fiel der Abschiedsgruß der deutschen Außenministerin auch ziemlich unterkühlt aus.

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Für Kommunisten hatte Kissinger nur Spott und als Außenminister gegen Laos und Kambodscha viele Bomben übrig. Für Deutschland hegte er ganz besondere Gefühle – im Guten wie im Schlechten. Als Fünfzehnjähriger floh der Jude Heinz Alfred Kissinger schikaniert vor den Nazis aus Fürth. Er kehrte als GI Henry zurück und befreite das KZ Hannover Ahlem. Das macht es so besonders, dass er mit seinem Geburtsland Frieden schloss und sich für die Freundschaft zwischen den USA und Deutschland außergewöhnlich einsetzte, wie der Kanzler in seiner Beileidsbekundung zu Recht betont.

Kissingers wichtigstes Vermächtnis ist die Aufforderung an Europa, endlich erwachsen zu werden, formuliert in seiner typischen Ironie: „Ihr Europäer müsst schon verstehen, dass, wenn es in Europa zu einem Konflikt kommt, wir Amerikaner natürlich keineswegs beabsichtigen, mit euch zu sterben.“