Berlin. Hendrik Wüst hat sich schon oft neu erfunden. Ein Buch fragt jetzt, ob er auch Kanzlerformat hat. Die Antwort passt gut in die Zeit.
Ein Buch über Hendrik Wüst? Das muss man sich erst mal trauen. Nicht weil der Mann so außergewöhnlich wäre oder so schnell beleidigt oder so klagefreudig. Die Herausforderung liegt woanders: Es gibt schillernde Politiker wie Klaus Wowereit, brillante Köpfe wie Gregor Gysi oder politische Berserker wie Joschka Fischer. Aber es gibt eben auch Typen wie Hendrik Wüst, zu denen einem spontan kein funkelndes Attribut einfällt. Tobias Blasius und Moritz Küpper ist jetzt das Kunststück gelungen, eine glänzende Analyse über Wüst zu schreiben, die gerade deshalb so gelungen ist, weil sie erklärt, warum ausgerechnet dieser grundsolide Schwiegersohntyp aus dem Münsterland so weit gekommen ist – und möglicherweise noch viel weiter kommt.
„Könnte einer wie er auch Kanzler?“ Die Frage ist der rote Faden des Buches. Klar: Noch ist nichts entschieden, noch ist vieles Spekulation. Frühestens in einem Jahr will sich die Union auf einen Kanzlerkandidaten festlegen. CDU-Parteichef Friedrich Merz hat traditionell den ersten Zugriff, doch was, wenn die Partei nicht an ihn glauben sollte? Die Zustimmungswerte sind mies, nach einer ganzen Serie verunglückter Auftritte und umstrittener Äußerungen zur AfD, zu Asylbewerbern und zu Koalitionen mit den Grünen ist gerade vollkommen offen, ob die Union mit Merz als Kanzlerkandidaten antreten wird.
Hendrik Wüst: Je lauter er schweigt, desto entschlossener ist er
Hendrik Wüst ist Regierungschef des bevölkerungsreichsten Bundeslandes, Vorsitzender des mitgliederstärksten CDU-Landesverbands, bestens vernetzt und zuletzt in Umfragen stellenweise sogar beliebter als der ewige Publikumsliebling Markus Söder. Seit Wüst im Kurs-Streit der Union sichtbar Position bezog und sich klar in die Merkel-Tradition der politischen Mitte stellte, neuerdings die AfD sogar als „Nazi-Partei“ brandmarkt, ist offensichtlich: Wüst muss man auf der Rechnung haben.
Name | Christlich-Soziale Union in Bayern (CSU) |
Gründung | 13. Oktober 1945 |
Ideologie | Christdemokratie, Konservatismus, Regionalismus, Europäische Integration |
Vorsitzender | Markus Söder (Stand: Dezember 2023) |
Fraktionsstärke | 45 Abgeordnete im Bundestag (Stand: Dezember 2023) |
Bekannte Mitglieder | Alexander Dobrindt, Andreas Scheuer, Horst Seehofer |
„Was er wirklich will, wird er möglichst lange für sich behalten. Auf seinem Weg nach oben hat Wüst selten an Zäunen gerüttelt. Meist sorgt er im Stillen dafür, dass die Dinge sich fügen. Als Faustregel gilt: Je lauter er schweigt, desto entschlossener ist er“, schreiben die Autoren. „Die Zeit dürfte in der Union ohnehin so oder so für ihn arbeiten.“ Ausgerechnet Merz, der Wüsts Ambitionen am meisten fürchten muss, erzählt den Autoren gegen Ende ihrer Recherche, dass er dem jüngeren Landsmann aus NRW einst einen wichtigen Rat gegeben habe: „Du darfst nie einen Zweifel daran lassen, dass du ein potenzieller Kanzler der Bundesrepublik Deutschland sein kannst.“ Da ahnte Merz noch nicht, wie ernst Wüst diesen Rat genommen hat.
Gymnasiast Wüst: „Schwarze Socke“ mit Abiturschnitt 2,5
Die beiden Düsseldorfer Journalisten beobachten Wüst nicht erst seit gestern. Tobias Blasius ist Landeskorrespondent der WAZ, die wie diese Redaktion zur FUNKE Mediengruppe gehört. Moritz Küpper arbeitet seit 2009 beim Deutschlandradio. Sie kennen den 48-Jährigen aus seiner Zeit als forscher Konservativer, als gescheiterter Generalsekretär und haben seine Neuerfindung als Landesvater mit den Grünen als Koalitionspartner verfolgt. Ihr Buch stützt sich dabei nicht nur auf ihre eigene erfahrungssatte Analyse.
Sie haben sich in Wüsts Umfeld umgehört, haben Menschen getroffen, die nicht nur den Politiker kennen, sondern den Zwei-Meter-Mann als streitlustigen Oberstufenschüler (Abi-Durchschnitt 2,5) und „schwarze Socke“ an seinem eher linksliberalen Gymnasium, als mittelmäßigen Handballer – und als Mann, dessen Haare mal wieder dringend geschnitten werden müssen, auch wenn sein Friseur sagt, man wolle jetzt oben mal etwas mehr Natur stehen lassen.
„Er eckt nicht an, will nicht negativ auffallen und hat verstanden, dass in der Berufspolitik das Performative längst wichtiger geworden ist als das Programmatische.“ Sie beschreiben Wüst als Vertreter einer jüngeren Politikergeneration, die mit immensem Einsatz ihren Aufstieg plant: „Die Politik vor allem als Handwerk verstehen und ihre Karriere kalkuliert mit perfekter Organisation und Raffinesse planen.“ Karriere und Kalkül – so der Untertitel des Buches – sind bei Wüst unmittelbar miteinander verknüpft. Anders als unerschütterliche Konservative wie Friedrich Merz oder überzeugte Sozialflügel-Leute wie Karl-Josef Laumann ist Wüst programmatisch beweglicher. Man könnte auch sagen: anpassungsfähig an Stimmungen und Mehrheiten.
„Langweiler haben eine längere Halbwertzeit als Lichtgestalten“
Kurswechsel, Neuerfindungen – Wüst wechselt alle paar Jahre sein politisches Programm, schafft es aber jedes Mal, die aktuelle Rolle in den Augen vieler CDU-Anhänger glaubhaft auszufüllen. Aktuell: der Kennedy vom Rhein, mit Töchterchen Pippa im Kinderwagen. „Hendrik, ich will ein Enkelkind von dir“, seufzt es aus der (bei Wahlen entscheidenden) Kohorte der über 60-Jährigen. Dass Wüst als „fleischgewordener Bausparvertrag“ verspottet wird, zählt da am Ende sogar auf sein Konto ein. Bausparvertrag? Gute Sache, denkt sich schließlich das halbe Land. Blasius und Küpper fassen die Lage treffend zusammen: „In der bundesrepublikanischen Politik hatten die Langweiler noch immer eine längere Halbwertzeit als die Lichtgestalten.“
Friedrich Merz und sein Vorgänger Armin Laschet, der Münsterländer Jens Spahn und der bayerische Machtfaktor Markus Söder, Paul Ziemiak und Carsten Linnemann, die beiden Parteimanager in Düsseldorf und Berlin: Nahezu das komplette Unionspersonal wird auf Nähe oder Distanz im Wüst-Universum abgeklopft. Die allermeisten kommen sogar ausführlich zu Wort. Nur einer bleibt im Dunkeln: Daniel Günther, der andere CDU-Regierungschef aus der Nach-Merkel-Generation, der gut mit den Grünen kann und ebenfalls lange Zeit als Kanzlerkandidatenreserve seiner Partei galt. Zu gern hätte man mehr erfahren über das Verhältnis der beiden.
Was Wüst und das australische Leistenkrokoldil gemeinsam haben
„Hendrik Wüst – Der Machtwandler“ liest sich süffig, bietet viele kluge Analysen und plastisch erzählte Szenen. Man erfährt, wie sehr ihn der frühe Tod seiner Mutter geprägt hat, dass Wüst nach einer schiefgelaufenen Notoperation bis heute an chronischem Husten leidet, einen blauen Brief nach Hause bekam wegen seiner schlechten Noten in Mathe und Französisch und Björn Engholm cool fand.
Was aber nur wenige schaffen in einer Politikerbiografie: Es gibt auch was zu lachen. Auf der Suche nach einem Bild, das die Wüst-Methode beschreibt, landen Blasius und Küpper im australischen Sumpf. Wüst verhalte sich wie das gefährliche Leistenkrokodil: „Man bemerkt es kaum in seiner Lethargie am Gewässerrand und unterschätzt leicht dessen explosionsartige Reaktionsschnelligkeit, wenn sich die Gelegenheit zum Beutezug ergibt.“ Herrlich abstrus? Sicher. Vielleicht aber auch prophetisch.