Berlin. Mindestlohn, Rente, Kindergrundsicherung: Wer wenig hat, kommt kaum über die Runden. Die Chefin des Sozialverbands VdK will das ändern.

Als Biathletin und Langläuferin sammelte Verena Bentele einst reihenweise Goldmedaillen bei den Paralympics ein. Seit 2018 steht die blinde Sportlerin an der Spitze des größten deutschen Sozialverbands VdK. Im Interview erläutert sie, was die Bundesregierung angesichts der starken Inflation tun sollte, um das Leben von Menschen mit wenig Geld zu verbessern.

Der Mindestlohn soll zum Jahreswechsel um 41 Cent steigen – auf 12,41 Euro. So schlägt es die zuständige Kommission vor. Ist das angemessen?

Verena Bentele: Auf keinen Fall. Wir brauchen einen armutsfesten Mindestlohn, er sollte wenigstens 14 Euro pro Stunde betragen. Es heißt immer, Arbeit müsse sich wieder lohnen. Das sehe ich genauso. Aber das heißt auch, dass Beschäftigte trotz schnell steigender Preise von ihrer Arbeit leben können müssen. Und sie dürfen sich später als Rentner nicht in einer Situation wiederfinden, in der sie zusätzliche Hilfe vom Sozialamt benötigen. Entscheidend ist aber auch, dass endlich Gewinne, die in Zeiten der Inflation erzielt werden, viel höher besteuert werden. Steigen die Gewinne immer weiter, wird viel zu schnell ein Mindestlohn von 14 Euro nicht mehr reichen.

Die SPD will in der Bundesregierung auf eine rasche Umsetzung der EU-Mindestlohnrichtlinie dringen. Auf diese Weise könne der Mindestlohn auf bis zu 14 Euro steigen, heißt es. Ist das der richtige Weg?

Bentele: Ich hätte es begrüßt, wenn die Initiative zu einer substanziellen Erhöhung von der Mindestlohnkommission ausgegangen wäre. Aber dem standen die Arbeitgeber im Weg. Wenn die Regierung jetzt eine weitere Runde dreht, dann freut mich das sehr. Unsere Unterstützung hat sie dabei. Im Übrigen wäre ein derartiger Schritt auch ein wichtiger Beitrag zur Stützung der Konjunktur.

VdK-Präsidentin Verena Bentele steht auf der Terrasse des Verbandsgebäudes in Berlin-Mitte. Sie sagt, dass der Mindestlohn auf wenigstens 14 Euro steigen sollte.
VdK-Präsidentin Verena Bentele steht auf der Terrasse des Verbandsgebäudes in Berlin-Mitte. Sie sagt, dass der Mindestlohn auf wenigstens 14 Euro steigen sollte. © FUNKE Foto Services / Anikka Bauer | Anikka Bauer

Inwiefern?

Bentele: Menschen mit niedrigen Einkommen können kaum sparen, ihr Geld fließt unmittelbar in den Konsum: Lebensmittel, Kleidung, Schuhe, Energie – um nur einige Beispiel zu nennen. Ein höherer Mindestlohn würde die Kaufkraft stärken, die Nachfrage stabilisieren und damit indirekt Jobs sichern.

Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr angesichts hoher Energiepreise insgesamt drei Entlastungspakete beschlossen. Die Inflation ist nach wie vor hoch. Braucht es weitere Hilfen?

Bentele: Die hohe Inflation ist für viele Menschen eine riesige Herausforderung – bis weit in die Mittelschicht hinein. Ein Großteil der Haushalte hierzulande hat kaum oder gar keine Rücklagen. Ich denke nicht, dass wir weitere Hilfspakete benötigen, von denen alle Bürger profitieren. Aber wenn die Preise weiter so schnell steigen wie bisher, wird sich der Bund überlegen müssen, wie er Menschen, die sich Energie, Lebensmittel und Mieten nicht mehr leisten können, noch einmal gezielt unterstützen kann.

An wen denken Sie da besonders?

Bentele: Beispielsweise an Alleinerziehende und arme Rentner. In diesen Gruppen sind die Sorgen vor der Zukunft groß. Das hören wir täglich von unseren Mitgliedern. Es gibt nicht nur Unmut darüber, dass das Geld vielfach nicht zum Leben reicht. Etliche Menschen fühlen sich allein mit ihren Nöten.

Warum?

Bentele: Die Bundesregierung plant, den Tarifabschluss des öffentlichen Dienstes auf die Bundesbeamten zu übertragen. Und zwar inklusive der Inflationsausgleichsprämie von 3000 Euro. Profitieren davon sollen auch die Pensionäre des Bundes. Aber die mehr als 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner bekommen diese Prämie nicht. Zwar sind die Renten ebenfalls gestiegen, aber wenn man weiß, dass Beamtinnen und Beamte fast doppelt so viel Geld zur Verfügung haben wie Rentner, dann fühlt sich das unfair an.

Was schwebt Ihnen vor für die Rentner?

Bentele: Wir brauchen zumindest weitere Hilfsangebote für die Ruheständler, bei denen das Geld nicht zum Leben reicht. Das werden immer mehr, zumal auch die jüngsten Rentenerhöhungen hinter der Inflationsrate zurückbleiben. Wir brauchen Härtefallfonds, an die sich die Menschen sehr unkompliziert wenden können. Außerdem: Die Ampel hat den Kreis derjenigen Personen ausgeweitet, die Anspruch auf Wohngeld haben. Das war im Prinzip gut und richtig. Wir hören aber aus der Beratungspraxis unserer Landesverbände, dass die Anträge sehr kompliziert sind und viele Menschen überfordern. Hier muss dringend etwas geschehen.

Pflege- und Krankenversicherung steuern auf ein Milliarden-Defizit zu. Beheben ließe sich das durch höhere Beiträge, einen höheren Bundeszuschuss oder Leistungskürzungen. Wie lautet Ihr Vorschlag?

Bentele: Leistungskürzungen kommen für uns nicht infrage. Auch Beitragserhöhungen sind nicht das Mittel der Wahl, sie belasten insbesondere Personen mit geringeren Einkommen. Wir sollten eher darüber diskutieren, die Beitragsbemessungsgrenzen anzuheben, damit mehr Geld ins System kommt.

Braucht es mehr Geld vom Staat? Der Etat von Gesundheitsminister Lauterbach wird im kommenden Jahr voraussichtlich schrumpfen.

Bentele: Was höhere Bundeszuschüsse betrifft: Da wüsste ich schon, wo Geld zu holen wäre. Zum Beispiel wären die zehn Milliarden Euro, die Finanzminister Lindner jährlich in die Aktienrente stecken will, anderswo besser angelegt. Und zwar in den Sozialversicherungen und bei der geplanten Kindergrundsicherung. Im Gesundheitswesen sollten wir aber auch zukünftig die Gewinnmöglichkeiten der dortigen Akteure einschränken.

Schwebt Ihnen eine Art Übergewinnsteuer für Kliniken vor?

Bentele: Keine Steuer. Aber die Anreize sollten eher sein, dass die Menschen gesund werden und nicht, dass sich teure Operationen lohnen. Lieber hohe Qualitätsstandards als hohe Gewinne, das wäre mein Ziel. Einige Krankenhäuser sollten außerdem ruhig Spezialisten sein.

Das ist auch die Stoßrichtung der geplanten Krankenhausreform. Kann Minister Lauterbach auf Ihre Unterstützung zählen?

Bentele: Ich finde diesen Ansatz sehr zielführend. Es braucht in der Fläche eine leicht zugängliche Versorgung für Notfälle oder Geburten. Aber wenn es um komplizierte Operationen geht, sollte nicht jeder alles machen, nur weil sich damit Geld verdienen lässt. Stattdessen sollten dann die Spezialisten ran, die tatsächlich die Qualität der Behandlung sichern können. Das ist auch im Interesse der Patienten. Als ich noch Leistungssportlerin war, hatte ich selbst einmal eine Meniskus-Operation. Da habe ich auch geschaut, wer mit solchen Eingriffen Erfahrung hat. Denn ich habe mein Knie schnell wieder in gutem Zustand fürs Langlaufen gebraucht.

Kann bei den Krankenkassen alles bleiben, wie es ist?

Bentele: Auch die können und sollten ihren Sparbeitrag leisten. Wir haben in Deutschland 96 Krankenkassen. Da stellt sich schon die Frage, ob das so viele sein müssen. Jede Kasse hat Vorstände, eine teure Verwaltung. Das heißt nicht, dass wir die kompetenten Personen nicht brauchen, die dort arbeiten und die Mitglieder vor Ort betreuen. Aber wenn es weniger Kassen gäbe, ließe sich der Verwaltungsaufwand deutlich reduzieren und damit viel Geld sparen.