Kiew. Bei einem Luftangriff auf Kiew sterben drei Menschen. Bürgermeister Klitschko steht in der Kritik – und muss nun um sein Amt fürchten.
Eine Tragödie in Folge der ständigen russischen Luftangriffe auf Kiew lässt einen der prominentesten Konflikte in der ukrainischen Politik wieder öffentlich aufflammen: das Duell zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und Hauptstadtbürgermeister Vitali Klitschko. Als Russland Mittwochnacht zehn Raketen auf Kiew abfeuerte, starben drei Menschen durch herabfallende Trümmer – darunter ein neunjähriges Mädchen. Sie waren nur deshalb noch auf der Straße, weil der nächstgelegene Luftschutzkeller geschlossen war.
Das Problem ist systematisch, trotz des andauernden Beschusses: Bei einer spontanen Überprüfung der Luftschutzkeller in Kiew zeigte sich, dass rund ein Viertel der Bunker nur schwer zugänglich sind. „Es könnte zum K.o. kommen“, antwortete Selenskyj noch am Tag der Tragödie in Moldau auf die Frage, wie seine Reaktion auf den Vorfall aussieht – ein klarer Seitenhieb gegen den Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko, der als Bürgermeister von Kiew auch für die Sicherheit der Einwohner verantwortlich ist.
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In seiner Abendansprache am vergangenen Freitag legte Selenskyj noch einmal nach. „Die Kiewer berichten wieder über Zugangsprobleme“, sagte er. „Das Ausmaß an Nachlässigkeit lässt sich durch keine Ausreden rechtfertigen.“ Klitschko konterte mit dem Hinweis, dass neun von zehn der Chefs der Kiewer Stadtbezirke auch Mitglieder der Präsidentenpartei sind. Ernannt werden sie auf Basis eines Vorschlags der Selenskyj-Regierung. Klitschko habe kein faktisches Mitspracherecht und könne sie auch nicht entlassen.
Kritik an Klitschko wegen des Vorfalls ist groß
Auch der aktuelle Chef der Kiewer Militärverwaltung, Serhij Popko, wurde von Selenskyj persönlich bestimmt, er ist in Zeiten des Kriegsrechts faktisch Klitschkos Vorgesetzter. Die Tragödie vom vergangenen Donnerstag hat dazu geführt, dass die Kiewer Luftschutzkeller inzwischen rund um die Uhr geöffnet werden müssen – unabhängig davon, ob es Luftalarm gibt oder nicht. Doch führt der Fall für Klitschko dennoch zum politischen K.o.? Die Kritik an ihm wegen des Vorfalls ist groß, vor allem in sozialen Medien.
Seit Selenskyjs Amtsantritt 2019 stand der Bürgermeister immer wieder kurz vor der Entmachtung. Doch ihn zu entlassen, ist schwer. Immerhin wurde er von den Kiewern gewählt. Die tatsächliche Macht in der Stadt hat ohnehin der Chef der Stadtverwaltung, den der ukrainische Präsident per Erlass bestimmt. Es ist eine politische Tradition, dass der Wahlsieger auch den Kiewer Verwaltungschef stellt – auch wenn dies nirgendwo festgeschrieben ist und in der Vergangenheit auch einmal anders war.
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Selenskyj hat nicht nur deshalb ein Problem mit Klitschko, weil der seinem Vorgänger und politischen Erzrivalen Petro Poroschenko nahesteht, sondern auch, weil der Ex-Boxer zwar eher unrealistische, dafür aber große Präsidentschaftsambitionen hat. Zu Beginn der Maidan-Revolution 2013/2014 galt Klitschko in Umfragen als Favorit im Präsidentschaftsrennen. Seine Stellung hat er jedoch binnen weniger Monate verspielt, nicht zuletzt wegen wiederholter Verbalaussetzer, die zum Ernst der Stunde nicht passten.
Klitschkos Bilanz als Bürgermeister ist durchwachsen
Am Ende verzichtete er auf die Kandidatur, unterstützte Poroschenko und nahm stattdessen nach zwei Niederlagen zum dritten Mal an der Wahl des Kiewer Bürgermeisters teil. Seit 2014 ist Klitschko nun ununterbrochen im Amt und wurde zweimal wiedergewählt – seine Bilanz als Bürgermeister ist allerdings durchwachsen.
Kritiker halten ihm vor, sich mehr um PR-Projekte statt um die brennenden Probleme, wie das schlechte ÖPNV-Netz in der Stadt, zu kümmern. In seiner gesamten Amtszeit wurde kein einziger neuer U-Bahnhof eröffnet. Auch illegal erbaute Gebäude und eine schwierige Parksituation in der Innenstadt sind Probleme, bei denen sich unter Klitschko kaum etwas bewegte.
Seit der Covid-Pandemie hat Klitschko allerdings seine PR-Strategie geändert und äußert sich verstärkt mit Selbstironie über das eigene mangelhafte rhetorische Talent, anstatt sich wie zuvor allzu ernst zu nehmen. Er brachte sogar ein illustriertes Buch mit den eigenen Klassikern wie „Um kaltes Wasser warm zu machen, muss es erwärmt werden“ heraus, was ihm viele Sympathien einbrachte.
Prominenz von Klitschko spricht gegen Entmachtung
Beobachter hielten das schon damals, 2020, für die Vorarbeit einer Präsidentschaftskampagne – darunter offenbar auch das Büro von Selenskyj. Über die mögliche Absetzung Klitschkos haben ukrainische Medien danach immer wieder spekuliert. Trotz der Kritik an seiner Arbeit als Bürgermeister hat Klitschko aber nicht ganz Unrecht, wenn er darauf hinweist, dass er auf viele Dinge kaum Einfluss hat.
Klitschko mag bei weitem nicht zum ersten Mal vor der Entmachtung stehen, so nah wie jetzt war er ihr aber lange nicht mehr. Wie ernst es ist, zeigt allein die harte und nachhaltige Kritik an ihm aus den Reihen der Präsidentenpartei in den vergangenen Tagen. „Es ist widerlich zu lesen, wie sich der Bürgermeister zu rechtfertigen versucht, als ob es keine Beschwerden gäbe“, schimpfte etwa das prominente Stadtratsmitglied Jewhenija Kuleba. „Alles nur leere Worte.“
Ob es wirklich zur Absetzung kommt, ist unklar: Klitschko ist in Kriegszeiten ohnehin nicht die Nummer eins in der Stadt, die praktische Rollenverteilung mit dem Chef der Militärverwaltung ist unklar. Und auch seine internationale Bekanntheit ist ein Gegenargument.
Land | Ukraine |
Kontinent | Europa |
Hauptstadt | Kiew |
Fläche | 603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim) |
Einwohner | ca. 41 Millionen |
Staatsoberhaupt | Präsident Wolodymyr Selenskyj |
Regierungschef | Ministerpräsident Denys Schmyhal |
Unabhängigkeit | 24. August 1991 (von der Sowjetunion) |
Sprache | Ukrainisch |
Währung | Hrywnja |
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