Berlin. Immer mehr Flüchtlingsboote kommen auf den kanarischen Inseln an. Auf El Hierro herrscht Chaos, Probleme gibt es auch auf Teneriffa.
„Ich habe noch nie einen so vollbesetzten Flüchtlingskahn gesehen“, sagte José Antonio Rodríguez, der Koordinator des Roten Kreuzes auf den zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln. 271 Menschen saßen in dem hölzernen Fischerboot, das dieser Tage auf der kleinen Kanareninsel El Hierro ankam. Es war von der Küste des westafrikanischen Staates Senegal gestartet und acht Tage auf dem Atlantik Richtung Europa unterwegs.
Dicht an dicht hockten die Migranten in dem 30 Meter langen und vier Meter breiten Flüchtlingsschiff. Nach mehr als einer Woche Seereise, auf der sich die Menschen kaum bewegen konnten, mussten viele der erschöpften Bootsinsassen im Hafen des kleinen Fischerdorfes La Restinga von den Helfern von Bord getragen werden. Die meisten Migranten waren junge Männer aus den westafrikanischen Armutsstaaten Senegal, Guinea und Gambia – 75 waren Kinder und Jugendliche.
Der Elendskahn, der Anfang Oktober ankam, ist das größte Migrantenschiff, das jemals auf den Kanarischen Inseln gesichtet wurde. Und seine Ankunft signalisiert, dass sich auch in Spanien die Flüchtlingskrise wieder zuspitzt. Allein auf El Hierro mit seinen 11.000 Einwohnern kamen zuletzt innerhalb von 48 Stunden mehr als 1200 Schutzsuchende in Booten an. El Hierro, die kleinste der Kanarischen Inseln, auf der es nur etwas mehr als 1000 Touristenbetten gibt, ist mit dieser Situation völlig überfordert.
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Kanarische Inseln: Flüchtlinge in Kloster untergebracht
Da kein Auffanglager auf der Insel existiert, wurden die Flüchtlinge provisorisch in einem alten leerstehenden Kloster einquartiert. Das Kloster soll eigentlich zum Hotel umgebaut werden – jetzt dient erst einmal als Notunterkunft. „Wir sind solidarisch und versuchen, so viel zu helfen wie möglich“, sagt Inselpräsident Alpidio Armas. „Aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt.“
Inzwischen begann die spanische Regierung damit, Hunderte von Flüchtlingen mit Fähren auf die Nachbarinseln Teneriffa und Gran Canaria zu verlegen. Dort befinden sich mehrere große Flüchtlingslager in früheren Militärkasernen.
Auch auf der Kanareninsel Lanzarote, die nur etwas mehr als 100 Kilometer von der marokkanischen Atlantikküste entfernt liegt, werden immer mehr Bootsflüchtlinge gezählt. Seit Anfang Oktober sind es jeden Tag Hunderte Boatpeople, die hier antreiben. Die meisten setzen in motorisierten Gummibooten von Marokko aus über, das etwa eine Tagesreise entfernt ist.
Überfüllte Flüchtlingsunterkünfte auf Lanzarote
Im Hafen der Inselhauptstadt Arrecife musste inzwischen ein provisorisches Zeltlager installiert werden. Auf Lanzarote gibt es zwar in Arrecife, gleich neben dem Polizeihauptquartier, ein Auffanglager mit 200 Plätzen – doch es ist überfüllt.
„Arrecife darf sich nicht in das Lampedusa im Atlantik verwandeln“, sagt Bürgermeister León Machín. Auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa herrschen wegen der Ankunft von Tausenden Migranten und Flüchtlingen chaotische Zustände. Arrecifes Bürgermeister Machín fordert schnelle Hilfe von der spanischen Regierung und von der EU. Beide müssten für eine gerechte Umverteilung der Ankommenden sorgen.
An Spaniens Küsten kamen seit Jahresbeginn mehr als 30.000 Bootsmigranten an – ein Anstieg von 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die meisten Ankünfte werden derzeit auf den Kanarischen Inseln registriert. Doch auch an der spanischen Festlandküste und auf der Mittelmeerinsel Mallorca werden mehr Boote gesichtet.
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400 Menschen starben auf der Atlantikroute Richtung Kanaren
Hunderte von Migranten ertrinken auf der gefährlichen Überfahrt nach Europa. Nach Zählung des UN-Flüchtlingshilfswerkes (UNHCR) kamen allein auf der Atlantikroute Richtung Kanaren seit Januar 2023 mehr als 400 Menschen ums Leben. Allerdings registriert das UNHCR nur die offiziell bestätigten Toten. Nach Angaben der spanischen Hilfsorganisation „Caminando Fronteras“ (Grenzen überschreiten), die in engem Kontakt zu Familien vermisster Migranten steht, könnte die wirkliche Totenzahl sehr viel höher sein.
Der spanische Seenotrettungsdienst rechnet damit, dass der Migrationsdruck Richtung Kanaren in den nächsten Herbstwochen nicht nachlassen wird. Das Meer sei im Moment ruhig, sagt Enrique Peña, Kapitän des in Arrecife stationierten Rettungsschiffs „Guardamar Polimnia“. Deswegen machten sich derzeit mehr Boote auf den Weg über den Atlantik.
Kapitän Peña hat in seinen vielen Dienstjahren schon viele schiffbrüchige Migranten gerettet. Er versteht, dass junge Menschen aus den Krisenstaaten Afrikas fliehen, um eine bessere Zukunft zu suchen. „Wir haben schon Leute gerettet, die aus einem Krieg kamen“, sagte er der spanischen Agentur Efe. „Ich kann mich konkret an einen jungen Mann erinnern, der keine Hände mehr hatte, aber bei der Rettung glücklich aussah – da wird man schon nachdenklich.“
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