London. London gräbt in der Themse: Wer sucht, findet mitunter spektakuläre Artefakte. Doch für dieses „Mudlarking“ gibt es strenge Regeln.
- Die britische Hauptstadt London blickt auf eine Jahrhunderte dauernde Geschichte zurück
- Das zeigt sich auch in seltenen Artefakten, die bis heute aus der Themse geborgen werden
- Schatzsucher machen dort immer wieder außergewöhnliche Funde
Tonpfeifen, Scherben von Krügen und Tellern, Holzwürfel, Knöpfe und Knochen – die Artefakte, die Christine Webb (52) auf den Steinstufen unter der Londoner Millennium Bridge ausbreitet, sind teilweise Jahrhunderte alt.
Webb trägt eine Basecap, ein hellblaues Poloshirt, eine dunkle Allwetterhose und Gummistiefel. Man könnte meinen, die studierte Historikerin habe tief im Schlamm gestanden, um solch Fundstücke ans Tageslicht zu befördern. Doch tatsächlich gibt der Fluss, der sich majestätisch durch die britische Hauptstadt schlängelt, ab und an solch historische Überreste frei. Man muss sich nur bücken und sie vom steinernen Themserand aufsammeln.
Nur 50 offizielle Genehmigungen hat die Hafenbehörde für die Schatzsuche ausgestellt
„Mudlarking“ nennt sich das, was Webb seit zwölf Jahren ans Ufer des Flusses zieht. Immer wieder und immer häufiger führt sie mittlerweile auch Gruppen aus Einheimischen und Touristen in die Geheimnisse der Suche nach vermeintlich Wertvollem ein. An diesem Tag sitzen mehr als 20 Menschen vor Webb. Jeweils 25 Pfund haben sie gezahlt, um gute anderthalb Stunden das Ufer der Themse unter der Millennium Bridge absuchen zu dürfen. Dennoch werden sie am Ende mit leeren Händen nach Hause gehen. Denn für das „Mudlarking“ gibt es strenge Regeln.
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Lediglich 50 offizielle Erlaubnisse hat die Hafenbehörde in den letzten Jahren an Londoner ausgeben, die nun „Mudlarking“ offiziell betreiben dürfen. Für alle anderen gilt: Bücken, aufheben, anschauen – und dann wieder zurücklegen. Und auch die registrierten „Mudlarks“ müssen wirklich historische Funde den Behörden melden. Das Museum of London sei aber eigentlich nur an Artefakten interessiert, die 300 Jahre und älter seien, so Webb.
Themse gibt historische Artefakte aus 2000 Jahren Geschichte frei
Die Geschichtsforscherin hat vor ein paar Jahren mal einen der tönernen Pfeifenköpfe gefunden. Die schöne Arbeit zeigt wohl einen Comic-Charakter aus dem 19. Jahrhundert. „Das war der Goofy oder Garfield seiner Zeit“, sagt Webb zu den „Mudlarking“-Interessierten. Es sei früher eben viel geraucht worden, so die Historikerin. Kleine und bauchigere Stücke könne man bis in das 16. Jahrhundert zurückdatieren, länglichere hingegen seien bis in das 20. Jahrhundert hinein mit Tabak gestopft – und dann vielfach über Bord oder von Land aus in den Fluss geworfen worden. Aber auch gegessen wurde immer. Und so lassen sich zum Beispiel auch Überreste von Gefäßen aus der Römerzeit, dem Mittelalter oder dem viktorianischen Zeitalter finden.
Für Webb und den Thames Explorer Trust, der die Führungen organisiert, hat das Aufspüren der Artefakte am Themse-Ufer allerdings nichts mit einer Schatzsuche zu tun. „Es geht darum, mit Geschichte in Berührung zu kommen“, erklärt Webb. Man wisse zwar sehr viel über die Reichen und Mächtigen der Historie. Über das einfache Volk gebe es hingegen vergleichsweise wenig Erkenntnisse.
Die Themse war „The Great Stink“, ist heute aber sauberer
Wer am Ufer Historisches aufspüren will, sollte festes Schuhwerk tragen. Auch Einweghandschuhe werden den „Mudlarkern“ empfohlen. Noch 1958 ging der Geruch der Themse als „The Great Stink“ in die Annalen Londons ein. Heute ist der Fluss zwar wieder sauberer, doch gegen mögliche Krankheitserreger im Wasser sei das sicherer, so Webb. In jedem Fall sei Händewaschen danach „eine gute Idee“.
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Auch die Londonerin Louise Ramsden (44) ist an diesem Tag mit dabei am Ufer der Themse, um nach Historischem zu suchen. Ramsden hat eine der begehrten Lizenzen der Hafenbehörde ergattert. „Es ist einfach toll, etwas in den Händen zu halten, was möglicherweise 2000 Jahre und älter ist“, erzählt die Frau begeistert. Am Ende wird sie zerbrochene Scherben – möglicherweise aus dem Tudor-Zeitalter (16. Jahrhundert) – mit nach Hause nehmen. Und auch einige Reste viktorianischer Teller hat Ramsden in ihrer Plastiktüte.
Buch über „Mudlarking“ macht spezielle Schatzsuche bekannt
Den Geschwistern Michelle Worthington und Graham Peacock aus North Devon macht das Absuchen des Ufers einfach „Spaß“. „Wir sind mit einem Vater aufgewachsen, der einen Metalldetektor gehabt hat. Schatzsuchen liegt also in der Familie“, scherzen sie. Und auch Terry Dahlstrom aus der kanadischen Provinz Alberta berichtet, sie genieße die Schatzsuche am Ufer. „Das Finden wirklich wertvoller Dinge ist aber nicht so einfach“, sagt die Urlauberin, die für eine Woche in der britischen Hauptstadt ist. Bislang habe sie ein paar Pfeifenreste, andere Scherben und Fossilien zu Tage befördert.
Bei Touristen sei das „Mudlarking“ in den vergangenen Jahren zu einem neuen Trend geworden, heißt es vom Thamse Explorer Trust. Mittlerweile führe man sogar Wartelisten für die Führungen. Zu erhöhten Nachfragen aus dem Ausland habe vor allem das Buch von Lara Maiklem beigetragen. Maiklems 2019 erschienenes Werk „Mudlarking: Lost and Found on the River Thames“ wurde zum Bestseller.
„Mudlarks“ sehen sich auch als Bewahrer der Geschichte
Maiklem streift seit gut zwei Jahrzehnten an den Ufern der Themse entlang. Ein 250 Jahre alter menschlicher Schädel, ein vollständig erhaltener Topf aus der Bronzezeit, Ringe, zwei kleinere Goldstücke und sogar Lederschuhe nennt sie als ihre größten Funde. Die Themse konserviere eben gut, so könne Sauerstoff die Sachen nicht zersetzen, erklärt Maiklem. „Die Objekte sind für mich wie ein Schlüssel zur Vergangenheit“, sagt die Autorin, die derzeit am dritten Buch zum Thema „Mudlarking“ arbeitet. Maiklem sieht sich selbst auch als Bewahrerin der Geschichte: Durch das Aufsammeln vom Ufer rettet sie die Artefakte vor der nächsten Flut.
Christine Webb hilft den neuen „Mudlarks“ am Ende der Tour auch beim Einordnen der Funde. Auf einer laminierten DIN A4 Seite, die sie bei sich trägt, sind historische Artefakte beispielhaft abgebildet. Eine Scherbe, die so ein bisschen aussieht, wie ein dickwandiges Gefäß aus der Tudor-Zeit weckt Euphorie bei einer der Teilnehmerinnen. „Erzähl Dir einfach, es ist ein Stück aus dem Palast von Henry VIII“, sagt Webb mit einem Schmunzeln zu der Frau, die in dem Moment wahrlich ein Stück Geschichte in ihren Händen hält.