Bochum. Im Urin von Kindern und Erwachsenen wurde eine gefährliche Chemikalie gefunden. Woher stammt der Stoff? Ein Labor geht auf Spurensuche.
Der Fund eines verbotenen Weichmachers im Urin von Kita-Kindern und Erwachsenen zieht weiter Kreise. Behörden in ganz Deutschland und der EU suchen fieberhaft nach dem Ursprung des Stoffes, der vielfach toxischer sein soll als vergleichbare Chemikalien. Ein Speziallabor in Bochum, das die Belastungen entdeckt hat und die Spurensuche anführt, äußert nun einen Verdacht: „Es ist nicht auszuschließen, dass es ein neuartiger Weichmacher ist, der allein für den europäischen Markt designt worden ist“, sagt der Toxikologe Holger Koch dieser Redaktion.
Koch leitet am Institut für Prävention und Arbeitsmedizin (IPA) der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung in Bochum ein Labor, das beim Nachweis von Weichmachern (Phthalaten) international zu den führenden Einrichtungen gehört. „Wir wissen, dass die chemische Industrie Ersatzprodukte entwickelt, wenn Substanzen reguliert oder verboten werden“, erklärt er.
Weichmacher im Urin entdeckt: Behörden schließen akute Risiken nicht aus
Koch hatte mit seinem zehnköpfigen Team bei Nachuntersuchungen das Abbauprodukt eines Weichmachers entdeckt: Mono-n-hexyl-Phthalat oder kurz MnHexP. Der Weichmacher ist seit Jahren in der EU verboten und streng reguliert. Die Muttersubstanz gilt als besonders giftig, sie greift das Hormonsystem an und kann bei Menschen die Fruchtbarkeit schädigen. Die Behörden schließen ein gesundheitliches Risiko bei aktuell Betroffenen nicht aus. Weichmacher sind in vielen Alltagsprodukten enthalten – in Kabeln, Lebensmittelverpackungen oder Fußbodenbelägen bis hin zu Kinderspielzeug und Kosmetik.
„Dieser Fund hat mich wirklich vom Hocker gerissen, weil ich das nicht für möglich gehalten habe. Dieser Stoff dürfte nicht da sein“, sagt Koch. Der Toxikologe war bei der Nachuntersuchung von 250 Urinproben von Kita-Kindern in Nordrhein-Westfalen in 60 Prozent der Proben fündig geworden. „Teils haben wir schon erhebliche Belastungen festgestellt“, so der Experte. „Dass sich die Konzentrationen innerhalb weniger Jahre seit 2018 teils verzehnfacht haben, ist etwas, was ich in den vergangenen 20 Jahren so noch nicht erlebt habe.“
Umweltbundesamt: Ein Drittel der Bevölkerung belastet
Auch in Proben von Erwachsenen, die Koch im Auftrag des Umweltbundesamtes im Rahmen der noch laufenden Deutschen Umweltstudie zur Gesundheit analysierte, tauchte die gefährliche Chemikalie auf. „Hochgerechnet ist ein Drittel der Bevölkerung mit diesem Stoff belastet“, sagt der Toxikologe.
Über eine Einschätzung der gesundheitlichen Risiken für die Bevölkerung will eine Expertenkommission des Umweltbundesamtes im April oder Mai sprechen, so Koch. Er selbst gehört der Kommission Human-Biomonitoring an. „Eine hohe Belastung ist noch nicht gleichbedeutend damit, dass eine Person auch erkrankt“, erklärt er. Man habe für das gefundene Abbauprodukt keinen Wert, von dem man ablesen könne, bis zu welcher Belastung man eine schädigende Wirkung einigermaßen ausschließen kann. „Oder andersherum: Wir wissen nicht, ab welcher Konzentration sie eintritt.“
Gefundene Chemikalie soll toxisch drei- bis fünfmal problematischer als andere Weichmacher sein
Für den gefundenen Stoff gebe es keinen derartigen Wert, wohl aber für vergleichbare Substanzen. „Wenn wir diesen Wert nehmen und dazu einrechnen, dass der nun aufgetauchte Stoff toxisch drei- bis fünfmal problematischer als andere kritische Weichmacher ist, dann kann die Kommission des Umweltbundesamtes daraus einen vorläufigen Richtwert ableiten. Wir gehen aktuell davon aus, dass bis zu drei Prozent der Erwachsenen und Kinder diesen Wert überschreiten könnten.“
Auf der Suche nach der Quelle der Belastungen tappen Koch und Behörden in ganz Deutschland nach wie vor im Dunklen. „Wir kennen nur die Hälfte des Fingerabdrucks. Was wir nun finden müssen, ist die Muttersubstanz. Es ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen“, so Koch. „Wir müssen herausfinden, wie dieser Stoff in den menschlichen Körper gelangt ist. Es müssen die Produkte gefunden werden, in denen dieser problematische Weichmacher steckt.“
Umweltbundesamt: Spur könnte zu Kosmetik und Sonnenschutzmittel führen
Das Umweltbundesamt hat berichtet, dass ein Teil dieses Fingerabdrucks auf kosmetische Produkte hinweise, sagt Koch. Auch sei es möglich, dass Sonnenschutzmittel damit in Zusammenhang stehen könnten. „Es ist jedoch nur ein erster, vager Verdacht. Ich warne ganz entschieden davor, Sonnencremes nun pauschal als Quelle anzusehen.“ Ein Test von Sonnenschutzmitteln einer Kölner Familie sei ohne Ergebnis geblieben. Der Toxikologe schränkt ein: „Das Abbauprodukt, das wir gefunden haben, kann von mehreren Muttersubstanzen stammen. Was wir aber wissen, ist: Dieser gefährliche Stoff muss aus Quellen stammen, denen wir ständig ausgesetzt sind.“
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Spuren nach Asien schließen die Experten bislang aus: „Ich habe hier in unserem Labor des IPA Proben aus asiatischen Ländern kühl gelagert. Sie wurden kürzlich etwa in Bangladesch oder Saudi-Arabien gesammelt. Wir haben darin nur ganz geringe Belastungen durch diesen Stoff festgestellt. Es scheint, als ob sich das Problem bislang auf Europa fokussiert.“
Betroffene können aus Datenschutzgründen nicht informiert werden
Für Toxikologen wie Koch, der in Deutschland durch die Einführung des Human-Biomonitorings ein Frühwarnsystem für gefährliche Chemikalien aufgebaut hat, ist der rätselhafte Fund ein herber Rückschlag: „In den vergangenen 15 Jahren konnte die Belastung durch kritische Weichmacher in der Bevölkerung stark reduziert werden. Das ist ein großer Erfolg, der durch das EU-weite Verbot dieser Chemikalien erzielt wurde“, erklärt er. „Dass wir nun aber einen dieser verbotenen Stoffe, der zugleich einer der fruchtbarkeitsschädigendsten Phthalate ist, im Urin gefunden haben, gibt Anlass zur Sorge. Dieser Fund hat den Erfolgen im Kampf gegen kritische Weichmacher einen schweren Schlag versetzt.“
Doch wer genau zum Kreis der Betroffenen gehört, wissen die Behörden nicht. So mussten etwa die Proben der Kita-Kinder in NRW aus Datenschutzgründen anonymisiert werden und sind daher nicht rückverfolgbar, bestätigte die Sprecherin des Landesamtes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz (LANUV) in NRW, Birgit Kaiser de Garcia. Umgekehrt bedeutet das auch: Tausende, die eine Urinprobe abgegeben haben, müssen aktuell mit der Ungewissheit leben, ob sie mit einer gefährlichen Chemikalie belastet sind.
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