Essen. Fleisch aus dem Labor spaltet die Gesellschaft. Für die einen ist es Grusel, für die anderen die Lösung vieler Probleme. Worum es geht.
„Seit Tausenden von Jahren isst der Mensch Fleisch. Und jedes Mal, wenn er Fleisch aß, musste er dafür ein Tier töten. Bis jetzt.“
Als Josh Tetrick kurz vor Weihnachten 2020 diesen Satz in die Kameras sprach, glaubte er an einen „historischen Moment im Lebensmittelsystem“. Der Geschäftsführer des US-Unternehmens Eat Just hatte soeben einen Sieg errungen. Als erstes Land der Welt hatte Singapur sein im Labor erzeugtes Hühnerfleischprodukt für den Endverbraucher zugelassen. Die Welt staunte: Ist das „echte, hochwertige Fleisch, direkt aus tierischen Zellen hergestellt“, so wie es das Start-up aus Kalifornien anpries, die Lösung für die Probleme unserer industriellen Massentierhaltung?
Laborfleisch: Frankenstein-Burger oder die Lösung globaler Probleme?
Hinter dem Fleisch aus dem Labor steckt der Traum von einer besseren Welt, die Hoffnung, den Hunger von Milliarden Menschen zu stillen, ohne dass dafür Tiere sterben, die Umwelt leidet oder wichtige Ressourcen wie Wasser schwinden. Für seine Kritiker aber ist Fleisch, das außerhalb des Körpers in Nährmedien heranwächst, ein Frankenstein-Burger aus dem Grusel-Labor. Künstliches Fleisch spaltet die Gesellschaft, und es spaltet Europa.
Vor wenigen Wochen verbot Italiens Rechtsregierung von Giorgia Meloni die Herstellung und den Verkauf von kultiviertem Fleisch. Als erstes Land in Europa verbannte es ein Produkt, auch wenn es zuvor weder in Italien noch in der EU auf dem Markt war. Verstöße sollen mit Geldstrafen von bis zu 60.000 Euro und der Beschlagnahme von Ware geahndet werden. „Uns geht es dabei um den Schutz unserer Tradition, unserer Produkte und vor allem der Gesundheit der Italiener“, argumentierte der Lega-Politiker Davide Bergamini. Kritiker hingegen sehen in der Entscheidung ein „ideologisches Verbot“.
Tissue Engineering: Tierische Stammzellen wachsen in Nährmedien
Fleisch aus dem Labor hat viele Namen: In-vitro-Fleisch, Clean Meat, kultiviertes Fleisch. Es ist dasselbe Rinder-, Schweine- und Hühnerfleisch, das wir heute essen“, sagt Ivo Rzegotta, Sprecher der Nichtregierungsorganisation Good Food Institute (GFI).
Hinter dem Fleisch, das aus Tierzellen stammt, doch außerhalb des Tierkörpers wächst, steckt ein Verfahren, das sich „Tissue Engineering“ nennt, auf Deutsch Gewebekonstruktion oder Gewebezüchtung. Dafür gebraucht wird Muskel- und Fettgewebe von Tieren, das unter lokaler Betäubung entnommen wird. Aus dem Gewebe werden vermehrungsfähige Stammzellen gewonnen. In einem Fermenter wachsen sie in einem Nährmedium zu einer Masse zusammen, die Hackfleisch ähnelt. Je nach Medium bilden die Stammzellen Muskel-, Fett- oder anderes Gewebe.
Burger-Patties und Nuggets aus dem 3-D-Drucker
Um neben Burger-Patties oder Chicken Nuggets auch „echte“, faserige Fleischstücke oder Steaks herstellen zu können, werden dreidimensionale Gerüstsubstanzen gebraucht, auf denen die Zellen wachsen können, etwa Chinin oder Kollagen. Das Zellkulturfleisch kann in die „Patronen“ eines 3-D-Druckers eingefüllt werden. Im Druck wird das Fleisch durch die Düsen gepresst. Schicht für Schicht entsteht so ein dreidimensionales Stück Fleisch.
Hat ein Drucker mehrere Düsen, können sie mit unterschiedlichen Stoffmischungen gefüllt werden, die etwa Muskelgewebe, Fett oder Blut abbilden sollen. Von einem konventionell hergestellten Stück Fleisch soll es dann nicht mehr zu unterscheiden sein.
Der erste Burger aus dem Labor kostete 300.000 Euro
So war es eine Weltsensation, als der niederländische Biomediziner Mark Post vor zehn Jahren in London den ersten Burger aus dem Labor präsentierte: ein Häufchen Hack zwischen zwei Brötchenhälften und Salatblättern. Nur, dass der Burger damals 300.000 Euro kostete.
Das Stück Fleisch, das der Weltöffentlichkeit gezeigt und vor den Kameras verköstigt wurde, war in einem Fermenter, einer Art Bioreaktor, aus Stammzellen eines Rindes herangereift. Auch an diesem Augusttag 2013 schien die Lösung plötzlich so nah, wie auch später in Singapur. Ein Jahrzehnt ist seitdem vergangen. Klimakrise und Ukraine-Krieg bedrohen die Ernährungssicherheit und weltweite Lieferketten, die Regenwälder schrumpfen. Doch weder in Deutschland noch in der EU hat ein Unternehmen in den vergangenen zehn Jahren einen Antrag gestellt, ein im Labor erzeugtes Fleischprodukt zuzulassen.
Für Mark Post, der an der Universität Maastricht forscht und Mitbegründer des niederländischen Unternehmens Mosa Meat ist, wird die Suche nach Fleischalternativen zur Überlebensfrage: „Kultiviertes Fleisch ist die Zukunft“, sagte er in einem Interview. „Wir haben, vereinfacht gesagt, nicht genügend Ressourcen, um bald zehn Milliarden Menschen zu ernähren.“ Laut der Vereinten Nationen hat sich die Fleischproduktion von 1988 bis 2018 verdoppelt.
Die konventionelle Art, Fleisch zu erzeugen, hält Post in Zeiten der Klimakrise, der Ressourcenknappheit und des Artensterbens für nicht mehr vertretbar. „Weltweit werden 70 Prozent des Ackerlandes für die Aufzucht sogenannter Nutztiere gebraucht. Für ein Kilogramm Rindfleisch werden 15.000 Liter Frischwasser benötigt“, sagt Post. „Indem wir 1000 Kilogramm Fleisch aus einer Biopsie herstellen, brauchen wir viel weniger Kühe für die Fleischproduktion. Weniger Kühe bedeuten ebenfalls weniger Treibhausgase und weniger Tierleid. Wir sind der Meinung, dass die Anzahl an Kühen von 1,5 Milliarden weltweit auf 30.000 reduziert werden kann – und das hauptsächlich, um die Herde genetisch gesund zu halten.“
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Fleisch aus dem Labor könne viele Probleme lösen, argumentiert das Good Food Institute. Treibhausgase, Flächenbedarf, Luftverschmutzung – in allen Bereichen seien die Umweltauswirkungen deutlich geringer als Fleisch aus einer Tierhaltung, die Ressourcen verschlinge: In Europa würden über 45 Prozent der angebauten Pflanzen an Tiere verfüttert, in Deutschland 60 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche für Tierfutter genutzt.
Eines der Hauptargumente aber ist das Tierwohl. „Durch Kultivierung können wir das Fleisch herstellen, das die Menschen gewohnt sind und lieben, ohne Tieren dabei Schaden zuzufügen“, so das GFI. Die Organisation sieht eine weitere Hürde überwunden: Bei den Nährmedien gebe es nun „tierfreie“ Alternativen zu den bislang notwendigen Kälberseren, die aus dem Blut ungeborener Kälber gewonnen wurden.
Fisch-Fettzellen: Millionen-Investitionen in neue Proteinquellen
Auch wenn eine massenhafte Einführung neuer Lebensmittelprodukte in weiter Ferne liegt: Investoren lassen seit Jahren immer wieder Wagniskapital in die Entwicklung von kultiviertem Fleisch fließen. Bis Ende 2022 sollen es entlang der gesamten Wertschöpfungskette über zwei Milliarden Dollar gewesen sein. In Europa haben sich die privaten Investitionen gegenüber dem Vorjahr auf 120 Millionen Euro fast verdreifacht. Das Good Food Institute gibt in seinem Report die Zahl von über 150 Unternehmen an, die weltweit an der Kultivierung von Fleisch arbeiten.
- Hintergrund:Wie nachhaltig ist Laborfleisch wirklich?
Auch andere Proteinquellen nehmen die Forscher ins Visier. Das Berliner Nahrungsmittel-Start-up Bluu Seafood etwa forscht gemeinsam mit der Hochschule Reutlingen und der Universität Vechta zu künstlich erzeugten Fischlebensmitteln. Ziel sei es, alternative Proteinquellen, insbesondere geschmackstragende, gesunde Fisch-Fettzellen, für die menschliche Ernährung nutzbar zu machen, teilt die Universität Vechta mit. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft fördert das Projekt mit mehr als 1,3 Millionen Euro.
Laborfleisch hat Europa erreicht, in der EU aber dürfte es noch Jahre dauern
Inzwischen nähern sich einige Produkte der Marktreife, glaubt das Good Food Institute. Seit Juni 2023 dürfen die US-Firmen Upside Foods und Good Meat in den USA ihr im Bioreaktor kultiviertes Hühnerfleisch verkaufen. Zellbasiertes Fleisch ist nun auch in Europa angelangt: Vor wenigen Monaten, im Juli 2023, reichte das israelische Startup Aleph Farms bei den Schweizer Regulierungsbehörden einen Antrag zur Zulassung von kultiviertem Fleisch ein.
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Doch bevor Laborfleisch den EU-Binnenmarkt erreicht und in Supermärkten zu kaufen ist, werden nach Einschätzung des Good Food Institute noch Jahre vergehen. In-vitro-Fleisch als Produkt muss einen Zulassungsprozess durchlaufen und durch die zuständigen Behörden als sicher eingestuft werden. In der Europäischen Union wird das Zulassungsverfahren durch die Novel-Food-Verordnung geregelt. Erst wenn ein Produkt zugelassen ist, kann es in allen 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union verkauft werden. Das GFI schätzt, dass der Prozess mindestens 18 Monate dauern wird. Ein Wimpernschlag in der Geschichte des Fleischessens.