Siegen-Wittgenstein. Stieftochter belastet 37-Jährigen schwer - doch dessen Anwalt sagt: Das Mädchen wurde beeinflusst. Wie die Staatsanwaltschaft kontert.
Er spricht von Aussagen, die ein Polizist dem jungen Mädchen quasi in den Mund gelegt haben soll. Und von der „Fantasie der Staatsanwaltschaft“, die das Potenzial habe, einen Unschuldigen in Haft zu schicken. Daniel Nierenz, Anwalt aus Netphen im Siegerland, vertritt den 37-jährigen Mann, der unter Verdacht steht, seine heute zwölf Jahre alte Stieftochter missbraucht und dabei geschwängert zu haben. Das Mädchen wurde bereits mit elf Jahren Mutter. Der Fall hat bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Jetzt erhebt der Rechtsanwalt des Stiefvaters im Gespräch mit unserer Redaktion schwere Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft Siegen, die den 37-Jährigen in U-Haft nehmen ließ und inzwischen auch Anklage erhoben hat. Die Staatsanwaltschaft weist diese Vorwürfe zurück.
Daniel Nierenz billigt der Staatsanwaltschaft zu, dass sich die Anklage „recht schlüssig“ lese, allerdings seien wesentlich Punkte noch nicht beantwortet worden. Im Fokus steht bei dem Anwalt die Frage, wie die Aussage des heute zwölfjährigen Mädchens zustande gekommen ist. Und ob mögliche gesundheitliche Aspekte, die die Aussagekraft beeinträchtigen könnten, von der Staatsanwaltschaft überhaupt gewürdigt worden seien.
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Zur Erinnerung: Dass die Schwangerschaft des damals elfjährigen Mädchens überhaupt entdeckt wurde, ist wohl aufmerksamen Lehrkräften an der Schule des Mädchens in Siegen-Wittgenstein zu verdanken. Von dort aus schaltete man das Jugendamt ein, das das Kind in seine Obhut nahm. Nachdem das Mädchen schließlich das Kind geboren hatte, wurde ein DNA-Test durchgeführt, dessen eindeutiges Ergebnis war: Der 37 Jahre alte Stiefvater ist der biologische Vater des Babys.
Allerdings: Die heute Zwölfjährige hatte zunächst ausgesagt, dass es gar nicht zum Geschlechtsverkehr gekommen sei. Sie habe sich vielmehr in den Stiefvater verliebt und ohne dessen Wissen ein gebrauchtes Kondom von ihm aus dem Müll geholt und sich quasi selbst geschwängert. Ein von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenes Gutachten stuft das als äußerst unwahrscheinlich, aber auch nicht völlig ausgeschlossen ein. Dadurch ergab sich für die Ermittler eine schwierige Situation: für eine Anklage reichte die Gewissheit zu dem Zeitpunkt zumindest noch nicht.
„Ich zweifele daran, dass das eine besonders belastbare Aussage ist.“
Das änderte sich allerdings, nachdem das Mädchen seine Aussage geändert hatte und nun offensichtlich doch geschildert hat, dass es zum Geschlechtsverkehr mit dem Stiefvater gekommen sei – mit einem Kind stellt dies immer einen schweren sexuellen Missbrauch dar. Anfang Oktober ließ die Staatsanwaltschaft den Stiefvater verhaften. Er sitzt seitdem in U-Haft. Nur wenig Tage später wurde Anklage erhoben.
Für Anwalt Daniel Nierenz steht diese Anklage aber auf tönernen Füßen: „Das Mädchen hat seine Aussage um 180 Grad geändert. Sie hat in einer polizeilichen Vernehmung erklärt, dass sexueller Missbrauch durch unseren Mandanten zu der Schwangerschaft geführt habe, was ihr der vernehmende Beamte in den Mund gelegt hatte. Ich zweifele daran, dass das eine besonders belastbare Aussage ist.“ Die Frage sei, ob das Mädchen die Aussage unter Druck geändert habe. Sie habe monatelang in einem gesicherten Umfeld gelebt, in einer Wohngruppe, sie sei immer bei der Aussage geblieben. „Nun erzählt sie plötzlich eine ganz andere Geschichte. Wie es zu dieser Änderung gekommen ist, ist eine Frage, die gutachterlich zu beantworten ist.“
„Ich kann mir ernsthaft nicht vorstellen, dass die Ermittler dem Mädchen vorgegeben hätten, was es sagen soll.“
Den Vorwurf, dass dem Mädchen quasi Worte in den Mund gelegt wurden, weist Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss, Sprecher der Anklagebehörde, zurück: „Ich kann mir ernsthaft nicht vorstellen, dass die Ermittler dem Mädchen vorgegeben hätten, was es sagen soll.“ Und er verwehrt sich auch dagegen, dass die Anklage nur konstruiert sei: „Wir haben nichts erfunden. Unsere Anklage stützt sich auf den Inhalt der Akten und das, was gesagt worden ist. Die rechtliche Bewertung liegt beim Gericht.“ Da keine weiteren Beweismittel oder Zeugenaussagen zu erwarten gewesen seien, habe man auch sehr zügig entschieden, Anklage zu erheben: „Solange das Erinnerungsvermögen noch frisch ist.“
Kussbilder formen das Gesamtbild
Neben der nun belastenden Aussage des Mädchens, dem DNA-Nachweis der Vaterschaft des beschuldigten Stiefvaters und einem wissenschaftlichen Gutachten, das die Version mit dem benutzten Kondom nahezu ausschließt, gibt es für die Staatsanwaltschaft noch einen weiteren Punkt, der das Gesamtbild formt: die bei der Datenauswertung eines Mobiltelefons gefundenen Kussbilder. Diese Küsse seien nach Auffassung der Staatsanwaltschaft keine, die ein Vater mit seiner Tochter austausche, so Grotthuss. Daher ist der 37-Jährige auch wegen der Herstellung kinderpornografischer Schriften angeklagt worden.
Das sieht Anwalt Daniel Nierenz ganz anders: Bei seinem Mandanten habe es eine Hausdurchsuchung gegeben, bei der auch ein bestimmtes Smartphone gesucht wurde. „Als unser Mandant gemerkt hat, dass dieses Handy nicht gefunden wurde, hat er es proaktiv der Polizei und der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt. Die Fotos auf diesem Handy, welches das persönliche Handy der Kindsmutter ist, sind Witz-Fotos. Darauf ist zu sehen, dass sich unser Mandant und das Mädchen mit rausgestreckten Zungen anlächeln.“
Anwalt will Glaubwürdigkeitsgutachten
Anwalt Nierenz betont, dass die Belastungszeugin noch ein Kind sei, „das besondere Rechte hat und sehr geschützt werden muss. Das erschwert die Verteidigung. Aber auch für unseren Mandanten gilt die Unschuldsvermutung.“ Und er verweist auf die Folgen aus seiner Sicht: „Angenommen, der Fall hat sich so zugetragen, wie von der Staatsanwaltschaft dargelegt, dann ist das Kind dauerhaft traumatisiert. Wenn es aber nicht so stattgefunden hat, weil die Vorwürfe gegen unseren Mandanten der Fantasie der Staatsanwaltschaft entsprungen sind und die Wahrheit darin liegt, dass sich das Mädchen über das gefundene Kondom aus dem Mülleimer geschwängert hat, dann wäre durch die Fantasie der Staatsanwaltschaft eine Familie zerstört und ein Unschuldiger in Haft geschickt worden.“
Nierenz kündigt an, dass man sicherlich ein Glaubwürdigkeitsgutachten beantragen werde, und auch ein psychiatrisches Gutachten. „Es kann nämlich genauso gut sein, dass das Mädchen belastende Aussagen getroffen hat, damit die Sache einfach aufhört. Möglicherweise erzählt sie das, wovon sie denkt, dass es andere hören möchten.“
Wie Gutachter die Glaubwürdigkeit begutachten
Ein solches Glaubwürdigkeitsgutachten (korrekt heißt es in der Fachwelt Glaubhaftigkeitsbegutachtung) ist zwar auch in Missbrauchsprozessen, in denen Kinder Opfer oder Zeugen sind, nicht die Regel. Aber sie sind auch keine Seltenheit, wie Renate Volbert im Gespräch mit der Redaktion bestätigt. Sie ist Professorin für Rechtspsychologie mit Schwerpunkt Aussagepsychologie an der Berliner Hochschule für Psychologie. Zu dem konkreten Fall aus Siegen-Wittgenstein will sie sich nicht äußern, aber sie kann durch ihre jahrzehntelange Erfahrung den Wert solche Glaubhaftigkeitsbegutachtung einschätzen.
„Die Glaubhaftigkeit der Aussage wird untersucht, indem verschiedene Hypothesen überprüft werden. Insbesondere wird geprüft, ob die Aussage eine Erfindung sein könnte oder durch eine suggestive, eine beeinflussende Befragung entstanden sein könnte. Oder ob das eben nicht der Fall ist“, erklärt Renate Volbert. „Dabei spielt eine Rolle, wie ein Ereignis geschildert wird, aber auch, wie eine Aussage entstanden ist. Daraus lassen sich Schlussfolgerungen ziehen, ob die genannten Unwahrhypothesen zutreffend sein können oder nicht.“
„Die Richter müssen entscheiden, ob sie der Einschätzung des Gutachtens folgen oder nicht, es gibt hier keinen Automatismus.“
Entscheidend bei dieser Begutachtung sei, wie gut vorherige Befragungen dokumentiert oder aufgezeichnet worden seien, so Renate Volbert. Die Teilnahme eines Kindes sei indes immer freiwillig. Sei dies nicht der Fall, dann sei die Gutachterin oder der Gutachter auf die Akten angewiesen – und auf die Teilnahme bei einer möglichen Hauptverhandlung.
Es könne dabei immer vorkommen, dass auch die Gutachter nicht zu einem eindeutigen Ergebnis kommen, so die erfahrene Expertin: „Die letztliche Einschätzung, ob die Aussage glaubwürdig ist, liegt immer beim Gericht. Die Richter müssen entscheiden, ob sie der Einschätzung des Gutachtens folgen oder nicht, es gibt hier keinen Automatismus.“