Kreuztal. Karmen Abdullah und ihre Familie sind seit drei Jahren Deutsche. Ihre Mutter lebt noch in Syrien - allein. Nun ist sie unheilbar an Krebs erkrankt.
Seit knapp zehn Jahren lebt Karmen Abdullah mit ihrer Familie in Deutschland und seither ist sie im Grunde nur am arbeiten. Nach dem Deutschkurs begann die heute 41-jährige umgehend in der Altenpflege, um die Familie durchzubringen. Kinder, Schule, das Haus, das alles kostet Geld. Karmen Abdullah beklagte sich nicht, nie. Aber jetzt kann sie langsam nicht mehr. Körperlich und emotional: Ihre Mutter, die noch in Syrien lebt, ist unheilbar krank. Krebs. Die Kreuztalerin möchte sie bis zu ihrem Tod pflegen. Das würde sie auch noch schaffen, sagt sie. Aber dass ihre Mutter überhaupt zu ihr nach Deutschland kommen kann: Das schafft sie wohl nicht mehr allein. Karmen Abdullah ist am Ende ihrer Kräfte.
Die Flucht: In Syrien wegen ihres christlichen Glaubens bedroht
Karmen Abdullah und ihr Mann sind gläubige Christen. Ihre Religion war auch der Grund, warum sie 2013 aus ihrem Heimatland flohen, zunächst in den Libanon. Der Bürgerkrieg tobte, die staatliche Ordnung brach in vielen Regionen Syriens zusammen, Milizen übernahmen die Kontrolle. „Als Christen wurden wir verfolgt“, sagt sie. Ihr Mann und sie haben das Kreuz-Symbol tätowiert, sie kleidete sich „freizügig“ - westlich. Sie vermummte sich einfach nur nicht. Eines Tages, erzählt Karmen Abdullah, wurden sie angehalten: Wenn sie das Kreuz nochmal sähen, sagten die muslimischen Kämpfer, würden sie es mit dem Messer entfernen. Zwei Jahre hielt es das Ehepaar mit den damals noch kleinen Kindern, 3 und 6 Jahre, im Libanon aus, dann reisten sie nach Deutschland. Mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Schiff. „Es war schlimm, was wir erlebt haben“, sagt Karmen Abdullah dazu nur. „Gottseidank sind wir hier in Sicherheit.“
Die neue Heimat in Kreuztal: Immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit für eine bessere Zukunft
Karmen Abdullah und ihre Familie haben seit drei Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft. Ihr Mann ist arbeitsunfähig, er hilft wo er kann, im Haushalt, mit Aushilfsjobs, aber mit seiner schweren Migräne darf er keine volle Stelle annehmen. Karmen Abdullah ist ausgebildete Pflegefachassistentin, muss das Geld für die Familie verdienen, das Haus abbezahlen und renovieren, regelmäßig schickt sie ihrer Mutter und auch den Schwiegereltern zudem Geld nach Syrien. Zwischendurch machte sie noch irgendwie den Führerschein. Urlaub? Noch nie. Überstunden? Lässt sie sich auszahlen. Karmen Abdullah braucht jeden Euro, für sich und ihre Liebsten. Wie sie das schafft? „Gott steht mir bei“, sagt sie und lächelt ihr bescheidenes Lächeln. Karmen Abdullah beklagt sich nicht. Ihr Arbeitgeber hat ihr angeboten, dass sie die Ausbildung zur Pflegefachkraft macht. Das müsse warten, sagt sie, keine Zeit. Erst wenn die Kinder erwachsen sind.
Sie würde sich natürlich lieber mehr um ihre Kinder kümmern. Ihre Tochter ist 15, eine schwierige Phase, die Jugendliche braucht ihre Mutter. Sie wünscht sich, auch mal in den Urlaub zu fahren. Manchmal frage die Teenagerin: Alle fahren in den Urlaub - „warum wir nicht?“ Karmen Abdullah sagt: „Ich bin nur am arbeiten, das stört meine Tochter.“ Sie weiß, mehr gemeinsame Zeit wäre besser für alle. „Aber was soll ich machen?! Ich muss meinen Kindern eine gute Zukunft in Deutschland ermöglichen.“ Als Karmen Abdullah kürzlich schwer stürzte und wegen Rückenschmerzen krankgeschrieben war: Das war schlimm. „Aber meine Tochter war auch froh, dass jetzt mal da bin.“
Die Familie in Kreuztal: Sie wollen die Mutter und Oma in Syrien nicht im Stich lassen
Bis vergangenes Jahr gab es keine größeren Probleme für die Mutter in Syrien. Sie lebt in Homs, zeitweise war es auch dort schlimm: Bomben, Raketen, Explosionen, viele Tote, sagt Karmen Abdullah. Zwischenzeitlich war es ruhig in der Region, aber es blieb gefährlich. Von ihrem Vater, der vor drei Jahren starb, konnte sich Karmen Abdullah nicht persönlich verabschieden.
Und nun die Sorge, dass es mit ihrer Mutter genauso ist. Die hatte sich immer selbst versorgt; vor drei Monaten rief sie an: Sie habe solche Schmerzen. Sie ging ins Krankenhaus, Diagnose: Darmkrebs. Die Milz wurde ihr entfernt, ein Stück des Darms, aber der Krebs hatte gestreut. Es geht ihr halbwegs, aber früher oder später wird sie daran sterben. Wann, das wissen sie nicht. Die Frau ist 63 Jahre alt.
„Ich bin ihre einzige Tochter“, sagt Karmen Abdullah. „Psychisch belastet mich das sehr. Ich kann sie nicht im Stich lassen.“ Auch weil ihre Kinder ihre Oma so vermissen. „Das ist im Moment ihr größter Wunsch im Leben: Dass die Oma bei uns leben kann.“ Es wäre noch mehr Arbeit für Karmen Abdullah, aber es wäre jemand da, mit dem die Kinder reden können. Und immerhin ist sie vom Fach, medizinisch geschult, kann etwa den Stoma-Beutel wechseln, die Entzündung versorgen, die ihrer Mutter gerade solche Probleme macht. „Aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Wie kann ich meine Mutter nach Deutschland holen?“ Durch den Sturz des Assad-Regimes ist alles noch unübersichtlicher geworden.
Kreuztalerin mit syrischen Wurzeln: Mutter nach Deutschland holen braucht Geld, Dokumente, Behörden...
Fest steht für die Familie nur, dass die Hilfe in Syrien nicht ausreicht. Ihr jüngster Bruder kümmert sich, so gut er kann, muss aber arbeiten - „aber sie braucht Vollzeitpflege“, sagt Karmen Abdullah. Und er kenne sich nicht aus. Per Videotelefonie hat sie versucht, ihm bestimmte Handgriffe zu erklären. Das gehe auf Dauer nicht gut.
Eine Pflegekraft zu bezahlen, „kostet so viel Geld“, sagt sie. So etwas wie Pflege- oder Krankenversicherung gebe es in Syrien nicht. Operationen, Medikamente, Pflegematerial soll ihre Mutter alles selbst bezahlen. Wovon denn? Karmen Abdullah schickt ihr schon regelmäßig Geld. „Aber was ist, wenn sie wieder ins Krankenhaus muss?“ Im Moment, sagt sie, sei alles unsicher. Lange hatte kein Arzt, kein Krankenhaus geöffnet - eigentlich brauchte ihre Mutter eine zweite Operation, danach wäre sie theoretisch reisefähig. „Wir wissen nicht, ob die OP stattfindet.“ Alles sei im Umbruch, im Land herrsche Chaos, es gebe Plünderungen, keinen Strom, Lebensmittel seien knapp. Karmen Abdullah hat kein gutes Gefühl.
„„Wir haben schon so viele schlimme Situationen erlebt und mit Gottes Hilfe geschafft. Gott ist immer bei mir. Auch wenn ich am Ende meiner Kräfte bin, ich tue alles für meine Familie.““
Die unsichere Situation überlagert die anderen Probleme: Woher das Geld nehmen? Karmen Abdullah will das bezahlen, irgendwie. Das Führerscheingeld ihrer Tochter habe sie schon einmal angetastet. Anders habe sie sich nicht zu helfen gewusst. Fühlte sich nicht gut an, sagt sie.
Die Mutter weiß um die Lage ihrer Tochter. „Jetzt wo sie krank ist, kommt sie nicht mehr allein zurecht“, was sie sehr belaste, sagt Abdullah. „Sie schämt sich und hofft, dass sie stirbt, bevor sie mir viel Arbeit macht und mich so viel Geld kostet.“ Was für Karmen Abdullah nicht in Frage kommt: Sie will ihre Mutter pflegen bis zum Tod, komme was wolle. „Gottseidank kann ich arbeiten.“ Ihre Kollegen würden sie bereits warnen: „Du wirst selber krank, wenn du weiter so schuftest.“ Aber das ist ihr egal. „Wir haben schon so viele schlimme Situationen erlebt und mit Gottes Hilfe geschafft. Gott ist immer bei mir“, sagt sie. „Auch wenn ich am Ende meiner Kräfte bin, ich tue alles für meine Familie.“
Unendlich kompliziert: Absolutes Chaos in Syrien - wie eine todkranke Frau nach Kreuztal holen?
Dann die rechtliche Lage: Die reguläre Einreise einer todkranken Frau aus Syrien zu ihrer Familie nach Deutschland - in dieser Situation; wie soll das gehen? Syrische Staatsangehörige brauchen grundsätzlich ein Visum für Deutschland, teilt das Auswärtige Amt auf Anfrage mit. Ein nationales Visum zum Familiennachzug wäre rechtlich möglich - wenn er „zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist“. Diese müsse begründet sein in der Trennung der Familieneinheit - die medizinische Versorgungslage allein sei, so schwierig sie auch sein möge, nicht ausreichend. Geprüft werde immer der Einzelfall. Die Migrationsberatung des Vereins für Soziale Arbeit und Kultur Südwestfalen (VAKS) würde Karmen Abdullah und ihre Mutter unterstützen. Es gehe um viel Papierkram, Formulare und Bescheinigungen, die übersetzt und der Auslandsvertretung übersandt werden müssen, heißt es auf Anfrage. Angehörige können beispielsweise eine Verpflichtungserklärung abgeben, dass sie alle notwendigen Kosten übernehmen werden, damit dem deutschen Staat keine weiteren Kosten entstehen.
Es ist unendlich kompliziert.
Als sie noch ganz neu waren in Deutschland - und auch danach -, hätten so viele nette Menschen sie unterstützt; mit freundlichen Worten, mit Zeit. „Wir waren allein mit kleinen Kindern, kannten niemanden“, sagt Karmen Abdullah, mehr als diese Hilfe annehmen, das wollte sie nicht. Sie wollte es immer selbst schaffen. „Aber jetzt“, sagt sie, „jetzt geht es nicht mehr.“