Siegen. Drei Fußballfans wurden 2020 in Siegen übel zusammengeschlagen, mit Hilfe von „Aktenzeichen XY“ zwei Verdächtige ermittelt - fälschlicherweise.
Drei Männer wurden im Sommer 2020 in der Innenstadt Siegens übel zusammengeschlagen. Die Tat erregte Aufsehen - auch, weil die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“ ausführlich berichtete. Durch die Ausstrahlung gingen Zeugenhinweise ein, es konnten Verdächtige ermittelt werden, hieß es im Frühjahr 2022. Zwei Männer wurden vor Gericht gestellt - und jetzt freigesprochen. Sie werden entschädigt, die Verfahrenskosten trägt die Staatskasse. Das Siegener Schöffengericht spricht in der Urteilsverkündung am Dienstag, 5. November, von gravierenden Ermittlungsfehlern durch den leitenden Polizeibeamten. Das Vorgehen des Kriminalhauptkommissars, so die Vorsitzende Richterin, sei rechtsstaatswidrig gewesen.
Die Tat: Drei Fußballfans nachts in Siegen übel von Gruppe Männer zusammengeschlagen
In der Nacht zum 21. Juni 2020 waren drei Männer Mitte 30 gegen 1.50 Uhr zu Fuß auf der Hindenburgstraße, heute Europastraße, unterwegs. Die Fußballfans kamen aus einer Gaststätte an der Fürst-Johann-Moritz-Straße, gingen Richtung Kino und kamen an einer größeren Gruppe Männer vorbei. Es kam zu Provokationen, Streit, Schlägen. Einer der Drei wurde von mehreren Männern hinterrücks angegriffen, zu Boden gestoßen und dort schwer verprügelt. Die Verletzungen beeinträchtigen ihn bis heute. Beim Versuch zu helfen wurden auch seine Freunde attackiert.
Als die Polizei eintraf, war die Gruppe um die Täter spurlos verschwunden. Fast zwei Jahre ermittelte die Kriminalpolizei recht vergeblich, bis es schließlich zur Zusammenarbeit mit „Aktenzeichen XY“ kam in der Hoffnung, dass sich weitere Zeugen melden, die die Polizei bislang nicht auf dem Schirm hatte. Und so kam es auch: Beim ZDF und bei der Siegener Kreispolizeibehörde gingen Hinweise auf mögliche Täter ein. Dank derer, hieß es im Nachgang der Sendung, habe die Polizei zwei mutmaßliche Hauptverdächtige ermitteln können. Ein Verfahren vor dem Siegener Schöffengericht wurde bereits 2023 eröffnet.
Das Gerichtsverfahren in Siegen: „Erhebliche Mängel in der Ausführung der Ermittlung“
Die Ermittlung ist Polizei und Staatsanwaltschaft mit dem Freispruch der beiden Männer, heute Mitte und Ende 20, ziemlich um die Ohren gehauen worden. Vor allem gegen den leitenden Kriminalhauptkommissar werden schwere Vorwürfe laut: Ein Zeuge, der selbst bei der Tat wohl nicht vor Ort gewesen sei, habe dem Polizisten den Namen eines der Angeklagten genannt; er sei einer der Täter. „Es stellte sich heraus: Das stimmte so nicht“, so die Richterin am Dienstag. Öffentlichkeitsfahndung (inklusive „Aktenzeichen XY“), Durchsuchungsbeschlüsse und beschlagnahmte Handys - alles auf Basis dieses einen Zeugen. Auch der schwer verletzte Geschädigte habe den Angeklagten nicht identifizieren können - niemand habe das gekonnt, im gesamten Verfahren nicht.
„Der Verdacht gegen ihn wurde durch den Kriminalhauptkommissar erst geschaffen“
Während der Beweisaufnahme habe der Beamte auf mehrfache Nachfrage hin schließlich einräumen müssen, dass dem Zeugen nur ein Foto des Angeklagten gezeigt wurde. „So soll eine Ermittlung nicht ablaufen“, stellt die Juristin fest - vielmehr müssten in solchen Situationen mehrere Fotos ähnlich aussehender Personen vorgelegt werden, um einen Verdächtigen gerichtsfest identifizieren zu können - oder eben auch nicht. Mit einem Foto könnten Zeugen - das traf demnach auf mehrere zu - nach so vielen Jahren gar nicht mehr sicher sagen, ob sie tatsächlich den Mann oder nur sein Bild gesehen hätte. Außerdem habe der Ermittler auch nicht dokumentiert, dem Zeugen das Foto gezeigt zu haben. Die Verteidigung, so die Richterin, hätte daher ein umfangreiches Beweisverwertungsverbot erwirken können. „Wir haben erhebliche Mängel in der Ausführung der Ermittlung gesehen.“
„Eine Riesensauerei: Hier wurde nicht ermittelt, nicht gefragt, hier wurde konstruiert.“
Die Vorsitzende rügte auch das Aussageverhalten des Polizisten, der lange nicht bereit gewesen sei, mit der Sprache herauszurücken. „Der Beamte dürfte noch Ärger bekommen“, bemerkte der Verteidiger. Staatsanwaltschaft und Polizei seien Dinge unterlaufen, „die vermeidbar waren“ - dass durch eine Fernsehsendung erst Verdachtsmomente gegen seinen Mandanten geschaffen wurden, sei „eine Riesensauerei: Hier wurde nicht ermittelt, nicht gefragt, hier wurde konstruiert“. Die Verteidigerin des anderen Beschuldigten zeigte sich „schockiert, wie eine Ermittlung ablaufen kann“.
Siegen: ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“ trägt auch zu Ermittlungsfehlern bei
Die Richterin bestätigte, dass dieses Verhalten rechtsstaatswidrig sei, ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren. Den Namen des Angeklagten habe niemand gekannt, „der Verdacht gegen ihn wurde durch den Kriminalhauptkommissar erst geschaffen.“ Der angeblich entscheidende Hinweis, der durch die ZDF-Sendung eingegangen sei: „Den gab es nicht.“ Der sei von außen gekommen, von Unbeteiligten, und habe auch keinen Beweiswert.
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Denn die Sendung selbst habe in alldem auch eine eher unrühmliche Rolle gespielt: Durch „Aktenzeichen XY“ hätten sich zwar viele Zeugen gemeldet, die aber oft gar nicht selber vor Ort gewesen waren. Auf mehrfache Nachfrage habe der Ermittler schließlich auch zugegeben, dass er ein Fotos des Angeklagten an die Produktionsfirma geschickt hatte, damit die einen Schauspieler finden konnte, der dem Beschuldigten möglichst ähnlich sieht. Offenbar mit großem Erfolg: Der Mann, der in den nachgestellten Szenen zu sehen war, ist dem Angeklagten so dermaßen ähnlich, dass die Erkenntnisse aus der Sendung vor Gericht nicht verwertbar seien, stellt die Vorsitzende fest: Kein Zeuge habe sicher sagen können, ob man sich an den Verdächtigen erinnere - oder an sein Double aus dem Einspielfilm.