Netphen/Siegen. Demenz verändert die Gesellschaft unaufhaltsam. Dagegen getan wird so gut wie nichts, kritisieren Pflegefachleute der Siegener Mariengesellschaft
„Wo bleibt der gesellschaftliche Aufschrei, da ist nichts. Wir lassen alles so geschehen – das ist schon krass”, sagt Stephan Berres, Einrichtungsleiter der Wohn- und Pflegeeinrichtung Haus St. Anna in Netphen. Am Donnerstag, dem Welt-Alzheimertag, beteiligten sich die Seniorenzentren der Marien Gesellschaft an der deutschlandweiten „Bademantel-Challenge“. Ziel der Aktion sei es, auf die Krankheit aufmerksam zu machen.
+++Mehr Nachrichten aus Siegen und dem Siegerland finden Sie hier!+++
An öffentlichen Plätzen einen Bademantel tragen, den Moment mit der Kamera festhalten und anschließend in den sozialen Netzwerken teilen: Die Deutsche Demenzhilfe möchte sich mit dieser Aktion den Betroffenen und Angehörigen solidarisch zeigen und die Alzheimer- und Demenzforschung ankurbeln. „Wir müssen mehr machen. Es ist schon fünf nach zwölf”, kritisiert Stephan Berres mit Blick auf die Statistiken der Alzheimer Gesellschaft: Derzeit leben den Angaben zufolge in Deutschland 1,6 Millionen Menschen mit Demenz, mit einem derzeitigen Zuwachs von etwa 300.000 Menschen pro Jahr. „Es wird auch weiter steigen. Und was wird gemacht? Zu wenig.”
Seit 40 Jahren sieht Stephan Berres kaum Veränderung in der Pflege Demenzkranker
Seit 40 Jahren arbeitet Stephan Berres in der Pflege – eine Entwicklung oder Veränderung zum Positiven sehe er nicht. Besonders die Angehörigen, die sich um die erkrankten Menschen kümmern, brauchen Unterstützung: „95 Prozent unserer Bewohnerinnen und Bewohner im Haus St. Anna kommen von zu Hause. Die größten Arbeitnehmer in der Pflege sind die Familien. Die Angehörigen, die die Person gepflegt haben, können aber irgendwann nicht mehr. Und das zu Recht.” Stephan Berres fordert eine finanzielle Unterstützung der Familien. „Viele Angehörige unterbrechen in dieser Zeit auch ihre Arbeit. Diese Menschen brauchen eine bessere Betreuung.”
Zuversichtlich blickt der erfahrene Pfleger also nicht in die Zukunft: „Das alles kostet Geld, viel Geld und damit hat sich das aktuell für Deutschland wohl erledigt.” Die geschätzten Gesamtkosten der Demenzerkrankung weltweit lagen bei rund 1,3 Billionen Euro im Jahr 2019 – 2030 liegen die Kosten den Prognosen zufolge dann schon bei 2,8 Billionen, wie eine Statistik der „Alzheimer Disease International“ (ADI) zeigt – mehr als verdoppelt. „Kommen neue Zahlen aus dem Bereich auf, wird sich kurz erschrocken, das war es dann aber auch. Letztendlich fehlt der wirkliche Wille auf wirksame Veränderungen.”
„Viele haben ein falsches Bild von Demenz und betiteln es als Katastrophe“
Mit der Bademantel-Challenge soll das Thema Demenz eine öffentliche Bühne bekommen. Mit ihrem Stand in der Netpher Innenstadt regt die Mariengesellschaft die Aufmerksamkeit der vorbeilaufenden Bürgerinnen und Bürger an – viele von ihnen bleiben auch stehen und kommen mit den Verantwortlichen ins Gespräch: „Wir wollen über die Krankheit aufklären und den Leuten Informationen vermitteln”, erklärt Stephan Berres. „Demenz heißt nicht bescheuert. Viele haben ein falsches Bild von Demenz und betiteln es als Katastrophe und stecken alle Erkrankten in eine Schublade.” Die Menschen müssten verstehen, was Demenz ist und auch den richtigen Umgang mit den Patienten lernen. „Demenzerkrankte finden sich nicht mehr in unserer Welt zurecht, also müssen wir uns an sie anpassen”, betont Stephan Berres.
+++Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook!+++
Besonders die älter werdende Gesellschaft stelle die jüngeren Menschen, die auch häufiger an Demenz erkranken, vor eine Herausforderung. Denn mit der steigenden Lebenserwartung wird es auch mehr demenzkranke Menschen geben, wie die Zahlen des ADI hervorbringen: Alle drei Sekunden entwickelt auf der Welt ein Mensch eine Demenz – darauf ist Deutschland nicht vorbereitet, meint Stephan Berres. Es müsse mehr Geld in die Forschung gesteckt werden „Wir haben in Deutschland eine Pflegekatastrophe. Immer mehr Dienste melden die Insolvenz an. Das ist sehr schade, denn eigentlich ist es ein wirklich schöner und sehr wichtiger Beruf.”