Netphen/Köln. „Nur weil jemand keinen Bock auf Smalltalk hat, ist er kein Freak.“ Giulia Becker aus Unglinghausen sagt: „Netphen muss man wollen.“
Bekannt ist Giulia Becker unter anderem aus Jan Böhmermanns „Magazin Royale“ im ZDF oder der „Carolin Kebekus Show“ in der ARD. Mitunter blitzt in den Sendungen die Siegerländer Herkunft Beckers hervor – sie stammt aus Netphen. In einem satirischen Spiel über Kommunalpolitik trat zum Beispiel vor einiger Zeit eine angebliche „Grünen-Fraktionsvorsitzende aus Netphen-Unglinghausen“ auf, wo Becker aufwuchs. Viele kennen sie inzwischen aus dem beliebten Podcast „Drinnies – Der Podcast aus der Komfortzone“, daneben ist Becker vielbeschäftigte Autorin, Moderatorin und Musikerin.
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Viele Menschen dürften inzwischen aus dem Podcast wissen, was Drinnies sind – vielleicht noch mal für alle anderen zum Verständnis: Was genau ist ein Drinnie, was macht einen Drinnie aus, wie äußert sich das im Alltag?
Drinnies sind zum Beispiel eher introvertierte Menschen, Schüchterne oder klassische Stubenhocker – eben alle, die aus sozialen Begegnungen keine neue Energie schöpfen, sondern danach erstmal Regenerationszeit brauchen. Als Chris Sommer und ich 2020 mit unserem Podcast „Drinnies“ gestartet sind, gab es gefühlt nur Comedy-Podcasts von extrovertierten Party-People, die lustige Anekdoten von der letzten Branchenparty und ihrem aufregenden Leben in großen Freundeskreisen erzählt haben. Wir wollen etwas anderes machen, Comedy aus der Sicht von Drinnies.
Was kann man von Drinnies lernen und was sollte man im Umgang mit Drinnies lernen?
Nur weil jemand keinen Bock auf Smalltalk hat, ist er kein Freak. Drinnies mögen zurückhaltender sein, wenn es um Fremde oder Menschenmassen geht, sind aber keineswegs weniger sozial als andere. Wenn du einen Drinnie als Freund hast, hast du einen echten Freund. Aber bitte: Hört endlich auf, ohne Ankündigung anzurufen.
Unter Leuten sein ist gut, alleine zuhause hocken schlecht – soweit das gesellschaftliche „Ideal“, wenn man so will. Tipps für andere Drinnies, wie sie sich zurückziehen und ihre Bedürfnisse befriedigen können, ohne andere vor den Kopf zu stoßen oder Erwartungen zu enttäuschen?
Wenn Leute immer von dir erwarten, dass du für sie ihre Komfortzone verlässt und sich vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn du für deine Bedürfnisse einstehst, dann sind es die falschen Leute. Charaktere sind verschieden, man sollte sich nicht dafür rechtfertigen müssen, Situationen zu verlassen, in denen man sich nicht wohlfühlt, oder sich ihnen erst gar nicht auszusetzen. Die gute Nachricht ist: Die Drinnies-Community ist riesig! Viel mehr Menschen als wir dachten ticken so wie wir. Wir haben den Podcast aus Spaß ins Leben gerufen und dachten, vielleicht gibt es ja ein paar Gleichgesinnte. Inzwischen haben wir wöchentlich knapp 200.000 Hörer*innen! Also statistisch gesehen kann der nächste Drinnie nicht weit sein. Drinnies, vereinigt euch!
Wie sollte ein Mensch sein, damit ein Drinnie ihn gern um sich hat?
Entspannt, keine Smalltalk-Person, darf nicht eingeschnappt sein, wenn man lieber alleine zuhause chillt, als mit auf eine Party zu kommen.
Man könnte sich fragen: Wenn Sie doch eigentlich lieber nicht von vielen Leuten umgeben ist und mit Menschen redet – warum geht sie dann ins Fernsehen und die digitale Öffentlichkeit?
Ich bin ja nur ein Drinnie und lebe nicht im Wald hinter einem Felsvorsprung. Ich habe Spaß an meinem Job als Autorin für Film und Fernsehen und bin regelmäßig auch vor der Kamera zu sehen. Auf meine Rollen kann ich mich vorbereiten, schreibe meine Texte selber und probe. Ich werde also nicht in kaltes Wasser geschmissen, sondern weiß, was ich zu tun habe. Viele Menschen finden das paradox, aber ich habe weniger Probleme damit, vor tausenden Menschen auf der Bühne zu stehen oder vor Hunderttausenden vor der Kamera, als auf eine WG-Party mit 20 Menschen zu gehen, die ich nicht kenne. Auf das Ganze Medien-Drumherum, die Parties, das Networking, das Anbiedern an „wichtige“ Personen aus der Branche, verzichte ich aber weiterhin gerne.
Was ist das Beste, wenn man beruflich was mit Medien macht – und was das Schlimmste?
Das Schlimmste: Das ganze Medien-Drumherum, die Parties, das Networking, das Anbiedern an „wichtige“ Personen aus der Branche. Das Beste: Ich kann mir Quatsch ausdenken, den andere Menschen dann hauptberuflich umsetzen.
Ohne Siegerland-Fragen geht’s nicht: Was würden Sie so gerade noch öffentlich über die Menschen in Netphen sagen, ohne dass deswegen die Verwandtschaft schimpft? Und worüber würden Sie garantiert nicht schimpfen?
Ich bin ja in Unglinghausen aufgewachsen, da gehörte man nie richtig zu Netphen, das hat einen die Kreuztaler Telefonvorwahl auch täglich schmerzlich wissen lassen. Da ich aber zehn Jahre in Netphen zur Schule gegangen bin und viele Freistunden in der „Innenstadt“ und bei der Bäckerei Eling (RIP!) verbracht habe, kann ich sagen: Netphen muss man wollen. Niemals schimpfen würde ich allerdings über die Institution „Dönermann“ an der Lahnstraße. Eine echte Legende!
Wenn man mit Humor und skurrilen Figuren und bescheuerten Ideen arbeitet (im positiven Sinne natürlich) – ist das Siegerland dann eine gute Inspirationsquelle? Eine bessere oder eine schlechtere als das Rheinland?
Eine der besten! Schon für meinen Debütroman „Das Leben ist eins der Härtesten“ konnte ich enorm viel Inspiration aus zwischenmenschlichen Begegnungen im Siegerland und dem Leben rund um die City-Galerie ziehen. Gerade sitze ich an meinem zweiten Buch und auch hier ist das Siegerland eine nie versiegende Quelle an Themen und Ideen. Danke dafür!
Zur Person: Giulia Becker
Giulia Becker, geboren 1991, wuchs in Unglinghausen auf und studierte Medienwissenschaft an der Universität Siegen. Seit 2013 lebt sie in Köln.
Größere Bekanntheit erreichte sie ab 2015, als sie begann, als „Schwester Ewald“ zu twittern – laut „Süddeutscher Zeitung“ waren ihre „impulsiven, spitzen und schonungslos selbstironischen Kommentare“ eine Mischung aus „maulig und lakonisch, derb und intelligent“. Ihre Beiträge wurden teilweise tausendfach geteilt und führten so zu mehr als 77.600 Followern.
Auf den Twitter-Account wurde Satiriker Jan Böhmermann aufmerksam – genau zu dieser Zeit absolvierte Giulia Becker ein Praktikum in der Redaktion von dessen Sendung „Neo Magazin Royale“ (ZDF Neo). Becker wurde als Autorin und Gagschreiberin engagiert und trat auch mehrfach vor der Kamera auf. Bekannt wurde unter anderem ihr Musikstück „Verdammte Schei*e“, eine zynische Abrechnung mit Alltagssexismus und Macho-Verhalten in männerdominierten Berufen. Im dazugehörigen Musikvideo, das millionenfach geklickt wurde, waren zahlreiche prominente Frauen zu sehen.
Ihr erster Roman „Das Leben ist eins der Härtesten“ erschien 2019 (Rowohlt Verlag) und handelt von vier Außenseitern, die vor ihren Problemen fliehen wollen und sich aus einer Kleinstadt Richtung Freizeitpark „Tropical Islands“ in Brandenburg aufmachen. Im gleichen Jahr wurde sie dafür mit dem Debütpreis der „lit. Cologne“ ausgezeichnet.
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Seit 2020 moderiert Becker zusammen mit Chris Sommer „Drinnies – Der Podcast aus der Komfortzone“. 2021 und 2022 bekamen sie den Deutschen Podcast-Preis für das beste Talk-Team, 2022 gewannen sie zusätzlich in der Kategorie „Bester Independent Podcast“.
Seit 2022 tritt Giulia Becker immer wieder in „Die Carolin Kebekus Show“ (DCKS) in der ARD auf.