Kreuztal. Vor 70 Jahren begann der große Waldumbau in Siegen und dem Siegerland – mit erstaunlichen Parallelen zur Lage heute. Ein Blick in die Geschichte

Wie lange schauen wir zurück in der Geschichte des Waldes? Gibt es „den“ Wald überhaupt? Ist es nicht die Geschichte einer Art gewaltigen Organismus, dessen Wandel sich menschlichem Verständnis von Zeit entzieht?

Ganz früh: Als die Eispanzer aus dem Norden die Bäume zurückdrängten

Gehen wir einige 10.000 Jahre zurück, vor die jüngsten Kälteperioden der Erdgeschichte, als die Eispanzer von Norden vorrückten. Da gab es die Douglasie in Mitteleuropa noch. Heute wird sie wieder aus Amerika importiert. Das Eis drängte die Bäume nach Süden, über die Alpen, die wie ein Sperrriegel wirkten. Als das Eis wieder wich, suchten sich die Baumarten Wege zurück. Aber eben nicht alle. So wie die Douglasie. Ist sie also ein Fremdländer – oder ein Spätheimkehrer?

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Menschen sehen den Wald aus ihrer Sicht, wie könnten sie anders. In der Natur finden aber gewaltige natürliche Prozesse statt. Der Mensch kann da Einfluss nehmen. Verhindern kann er sie wohl nicht.

Ein paar Jahrhunderte zurück: Fast der gesamte Siegerländer Wald ist Hauberg

Die Haubergwirtschaft war jahrhundertelang prägend für das Siegerland. Alles was der Wald hergab, wurde genutzt; bis fast zur Übernutzung: Das Holz für Kohle. Die Rinde für Gerbstoffe. Selbst das Vieh hütete man im Wald, baute Roggen und Buchweizen zwischen den Stockausschlägen an. Und die Pastoren lebten von den Erträgen der Pfarrwäldchen.

Jedes Jahr wurde gemeinsam ein anderes Stück des gemeinsamen Waldes bewirtschaftet. Wie die Fruchtfolge auf den Feldern im Grunde, nur in größerem Maßstab. Fast der gesamte Wald im Siegerland wurde intensiv genutzt. Keineswegs Natur pur. Die Eisenbahn läutete dann ab Mitte des 19. Jahrhunderts das Ende des Haubergs ein: Über die Ruhr-Sieg-Strecke erreichte Steinkohle die Hüttenwerke, synthetische Gerbstoffe lösten Gerbrinde ab, die wichtigsten Produkte des Siegerländer Waldes wurden überflüssig. Neuartige Mineraldünger ermöglichten es, die spärlichen Äcker auskömmlich zu bewirtschaften.

Exkurs: Waldgeschichten des Siegerlands – den Wald vor lauter Bäumen sehen

Der Wald erzählt seine Geschichten selbst. Es gibt ja noch die Relikte, die berichten aus alter Zeit. Menschen, die für und auch viel im Wald leben, wissen um diese Geschichten. Martin Sorg, Förster im Revier Kindelsberg, und Rüdiger Becker, Vorsteher der Waldgenossenschaft Buschhütten, tragen dieses Wissen weiter, können die Geschichte übersetzen, sehen die Geschichten, wo die meisten halt den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Genau hinschauen, fragen: Warum ist das so, empfiehlt Martin Sorg.

Die knorrigen Hudeeichen zum Beispiel, unter deren Schatten das Vieh auf Waldweiden gehütet wurde, nachdem die Hirten die Herden in den Orten zusammengetrieben hatten – damals hatte fast jeder eine Kuh daheim. Die Laubengänge; Baumalleen, auf denen die Menschen zum Arbeiten in die Hauberge gingen oder sonntags zur Kirche. Die Lehnhofeiche oberhalb von Buschhütten, nach dem Bergmann Robert Lehnhof, der hier schürfte.

Hudeeiche oberhalb von Buschhütten: Das Vieh wurde zusammengetrieben und im Wald gehütet (daher der Name), im Schatten der Bäume.
Hudeeiche oberhalb von Buschhütten: Das Vieh wurde zusammengetrieben und im Wald gehütet (daher der Name), im Schatten der Bäume. © Unbekannt | Hendrik Schulz

Bäume erinnern an besondere Ereignisse, wie die Kaiserlinde auf dem Kindelsberg, gepflanzt nach einem gescheiterten Attentat auf Wilhelm I. Sie erinnern an Personen, wie der Tulpenbaum in Buschhütten an einen verunglückten Forstarbeiter. Bäume markieren Grenzen, auch zwischen Haubergen. Apropos: Die Haubergschläge, die Flurstücke der Waldgenossenschaft Buschhütten, heißen heute noch wie vor 300 Jahren: „Der hinterste Fimelskop“, „unterm Duderdsch“, „am Strackewegelgen“.

Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt im Siegerland der große Waldumbau

Baumkarte der Waldgenossenschaft Buschhütten: Hin zu einer Durchmischung der Baumarten
Baumkarte der Waldgenossenschaft Buschhütten: Hin zu einer Durchmischung der Baumarten © Waldgenossenschaft Buschhütten | Waldgenossenschaft Buschhütten

Der große Waldumbau begann in den 1950er Jahren. Die Menschen hatten Holzknappheit erlebt, Reparationshiebe an die Alliierten geleistet, vom alten Haubergswald konnten sie nicht mehr leben. Aber sie hatten Visionen, die den heutigen, durch den Klimawandel bedingten, erstaunlich ähnlich sind: Einen naturnahen Wirtschaftswald wollten sie anlegen. Der Klimawandel war noch kein Thema. Aber die Abgase der Hüttenwerke, darauf richteten sich die Menschen seinerzeit ein. „Der Wald spiegelt die Bedürfnisse der Menschen wider“, sagt Martin Sorg: Wirtschaftlich, ökologisch und sozial.

Vielleicht kann man sich den Wald vorstellen wie ein Mehrgenerationenhaus: Zuerst zogen die Großeltern ein – die Fichten. Aber dabei blieb es nicht. Die Fichten wuchsen, machten Platz und ließen Licht für Nadel- und Laubbäume. Im Wald dauert eben alles etwas länger. Und im Wald stehen nicht nur Bäume auf einer Fläche: Er wächst auf mehreren Etagen, in zeitlicher Abfolge. Schon damals wurden breite Unterbrecherstreifen freigelassen, damit Nadelholz- nicht zu Monokulturen wurden. „Außer der Vorbeugung und Verhütung von Sturm- und Feuergefahr haben die Laubholzstreifen einen sehr hohen ökologischen Stellenwert“, schrieb der Förster Kurt Görzel aus Kreuztal in seiner Abhandlung über die „Aufforstungs-Anweisung“ von 1950.

Heute: Im Siegerländer Wald im Einklang mit der Natur arbeiten

Kyrill, der Borkenkäfer, der Klimawandel, haben die alten Pläne ein Stück weit durchkreuzt. Aber nicht zunichte gemacht. Wenn vor 12 Jahren fünf Baumarten gepflanzt wurden, finden sich heute bis zu 15 in diesem Gebiet. Den Rest hat die Natur dazugetan. Das wollen moderne Forstwirtschaft und -wissenschaft nutzen: Die Natur arbeiten lassen, nur das ergänzen, was nicht von allein kommt, behutsam steuern. Der Mensch kann davon profitieren. Tut man nichts, wachsen Bäume. So ist das in Mitteleuropa – Landschaften wie die Trupbacher Heide müssen aktiv offengehalten werden, durch Abflemmen oder weidende Schafe. Sonst kommt der Wald zurück.

Wie hier am
Wie hier am "Pfarrstück" der Waldgenossenschaft Buschhütten hätte der Wald idealerweise aussehen sollen: Hohe Fichten, unter denen jüngere Bäume Platz und Licht zum Wachsen haben. © Unbekannt | Hendrik Schulz

Wozu also die Eberesche mühsam aus einer Kahlfläche heraushacken? Es gibt nicht die böse Fichte und den guten Laubwald – die Mischung macht’s. Waldvorsteher Rüdiger Becker zeigt das auf einer Pflanzkarte (siehe Foto). Und das ist nur der Plan. Die Natur wird ihren Beitrag leisten. Ganz sicher. „Wir Forstleute arbeiten nah an der Natur“, sagt Martin Sorg. „Wir müssen drauf gefasst sein, dass der Natur etwas anderes einfällt.“

In Zukunft: Der Wald in Siegen und Umgebung steht vor einer Zeitenwende

„Wirtschaften ist nicht verwerflich“, sagt Martin Sorg. Halt auf Basis natürlicher Prozesse, die ohnehin stattfinden; einen Rohstoff mit wachsender Bedeutung vor Ort produzieren, statt ihn mühsam zu importieren, „im schlimmsten Fall aus einem abgeholzten Primärurwald“, findet Sorg. Nachhaltigkeit, das heute etwas abgedroschene Wort, wurde vor etwa 300 Jahren von deutschen Forstleuten geprägt. Da will die deutsche Forstwirtschaft, die international einen guten Ruf genießt, hin; mit Ideen, Kreativität, Durchhaltewillen, vor allem bei den Waldbesitzern. „Einen neuen Mischwald gibt es nicht mal eben von der Stange“, sagt Sorg.

Die Lehnhof-Eiche heißt nach dem Bergmann Robert Lehnhof, der hier auf Erfolg beim Schürfen hoffte.
Die Lehnhof-Eiche heißt nach dem Bergmann Robert Lehnhof, der hier auf Erfolg beim Schürfen hoffte. © Unbekannt | Hendrik Schulz

Heute steht der Wald wieder vor einer Zeitenwende. Und die Forstleute können genauso wenig wissen, ob sie das hundertprozentig Richtige tun, wie schon ihre Vorgänger. Im Wald dauert alles sehr lange. „Man muss 80 bis 140 Jahre in die Zukunft blicken“, sagt Förster Sorg. Kein Waldbauer pflanzt für seinen eigenen Ertrag. Sondern für seine Nachfolger. Nach dem Zweiten Weltkrieg taten Förster und Waldgenossenschaften ihr Bestes, um den Wald bestmöglich umzubauen. Für nachfolgende Generationen. Fichten waren Teil dieses Plans. Aber nicht der einzige.

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Der Hauberg als Wirtschaftsform ist Geschichte. Die Genossenschaften sind geblieben, bis heute. „Als Besitzform ist die Waldgenossenschaft das Beste, was es gibt“, sagt der ehrenamtliche Waldvorsteher Becker. Er besitzt Anteile am Wald, aber kann bei keinem Baum sagen: Der gehört mir. Mit Profitgier kommt man hier nicht weit.

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