Netphen/Oimjakon. Sebastian Balders (23) aus Netphen reist als Couchsurfer an den kältesten Ort der Welt, nach Oimjakon in Sibirien. Er ist der jüngste Mensch, der bisher dort zu Gast war.
Schnee knirscht unter schweren Sohlen. Blaue Augen blitzen in die Kamera. „Ich bin in Oimjakon“, sagt Sebastian Balders (23). Weiße Atemwölkchen stieben in die Luft. „Minus 56 Grad. Wahnsinn.“ Wölkchen. „Sonnenaufgang.“ Wölkchen. Die Kamera schwenkt auf eine orangefarbene Sonne, schneebedeckte Dächer und Schornsteine mit Wölkchen. Balders ist ergriffen. Er ist angekommen. Im kältesten Dorf der Erde, einem Ort mit Wölkchen, weil alles gefriert, was mit der Luft in Berührung kommt.
Oimjakon liegt in Jakutien. 680 Kilometer nordöstlich von der Großstadt Jakutsk. Im Jahr 1926 wurden hier Minus 71,2 Grad Celsius gemessen. Natürlich gibt es dort ein schweres Denkmal. Nach alter russischer Tradition. Auch Sebastian Balders knipst an dieser Stelle ein Foto. Der Bürgermeister stellt sogar Urkunden aus: Sebastian Balders ist der 333. Besucher in Oimjakon und gleichzeitig der jüngste, der jemals dort war. Ein witziges Angebot für Touristen. Allerdings ist der 23-Jährige kein üblicher Tourist. Keiner der Eisfischer, Rentierstreichler und Rekordjäger, die sich so eine Expedition gern 6000 Euro kosten lassen. Der junge Mann aus Netphen verreist eher unkonventionell.
Muskeln gefrieren
Über seine Couchsurfing-Kontakte lernt er Sima aus Jakutsk kennen, das Mädel übersetzt (Balders: „Ohne Russisch geht hier gar nichts.“) und begleitet ihn auf der weiten Reise über die Kolyma-Straße, eine der gefährlichsten Straßen der Welt, weil sie so abgelegen ist. „In den zehn Stunden Fahrt sind uns nur drei bis vier Autos entgegengekommen“, erzählt er. Wer hier eine Panne hat, bezahlt mit dem Leben. Das nächste Krankenhaus von Oimjakon liegt zwölf Stunden entfernt. So genau hat er das seiner Mutter nicht erzählt. Ist ja nichts passiert.
600 Fotos und beeindruckende Videos bringt Balders mit. Und der 23-Jährige hätte noch viel mehr gemacht, wenn der Akku bei Minus 56 Grad nicht so schnell wrack ginge. Und dann war da noch die Sache mit dem Finger. „Ich musste immer aufpassen, dass ich nicht am Auslöser festfriere.“ Nach zwei Minuten ohne Handschuhe beginnen die Finger zu brennen. Wenn man das Gesicht nicht warm einpackt, gefrieren sogar die Muskeln. Lächeln wird dann schmerzhaft. Besonders unangenehm, weil die Begegnungen am kältesten Ort der Erde herzlich sind.
Deshalb zieht sich Balders warm an: Gefütterte Winterstiefel mit drei Paar Socken, drei Lagen Kleidung an den Beinen und vier Schichten am Oberkörper. Sonst kann es einem schnell so gehen wie Balders Boxershorts, mit denen er ein Experiment gemacht hat. Nass schwang er sie über die Leine – 30 Minuten später hing sie dort bretthart. Kaum noch zu biegen.
In einem weiteren Experiment – alles per Video festgehalten – gießt er kochendes Wasser in einen Blechtopf. Mit Schwung schüttet er das Wasser in die Luft. In Sekundenschnelle gefriert das Wasser zu Eispulver und fällt sanft zu Boden. Wölkchen eben.
Wetterprognose für Piloten
Starkregen, Hagel, Schnee – Wetterextreme ziehen Sebastian Balders schon seit der Schulzeit an. So fand er beispielsweise als Jugendlicher heraus, dass Erndtebrück ein Kaltluftsee ist: In der Nacht sammelt sich kalte Luft in dem Kessel dort und sorgt für extreme Kälte. Nach der Schule absolviert er eine meteorologische Ausbildung beim Deutschen Wetterdienst, derzeit studiert er Flugmeteorologie in Langen. Später wird er Wetterprognosen für Piloten erstellen. Auch was mit Wölkchen.
„Ich habe hier die warmherzigsten Menschen kennengelernt“, sagt Sebastian Balders und erzählt von Tamara. Seine knapp 70-jährige Gastgeberin, die ihr Gesicht in freundliche Falten legt und in ihrem warmen Häuschen immer wieder Wasser nachschenkt. Milch kauft sie in Kilogramm. Wer ein Glas möchte hackt sich ein Stück ab aus dem tiefgefrorenen Block. Tamara hat schon einmal Minus 68 Grad erlebt. Aber was macht das schon für einen Unterschied? Minus 40 oder Minus 50 Grad. „Ab etwa Minus 45 Grad kannst du deinen Atem knacken hören“, sagt Balders. „Sublimation“, erklärt er. Der unmittelbare Übergang vom festen zum gasförmigen Zustand.
Nur zwei Dinge waren unangenehm. „10 Stunden Taxifahrt in einem sehr kleinen Auto“ und der Gang zum Örtchen. Urin verdampft direkt am Boden. Wölkchen.
Spannende Fakten – Im Sommer kommt der Schlamm
Wasser. Wasserleitungen gibt es in Oimjakon nicht, sie würden den extremen Temperaturen nicht standhalten. Regelmäßig wird mit einem Tankwagen Wasser geliefert. In jedem Haus steht eine große Tonne am Fenster. Per Schlauch wird das Wasser eingefüllt. Günstiges Wasser gibt es an den Flüssen, dort muss allerdings erst das meterdicke Eis aufgehackt werden.
Fleisch. Die Menschen in Oimjakon essen morgens, mittags und abends Fleisch oder Fisch. Denn das Leben in diesen Extremen verlangt viel Energie. Viele gehen selbst jagen. Der kleine Lebensmittelladen im Ort ist teuer.
Heli. Lastwagen kommen im Winter regelmäßig über die Kolyma Straße nach Oimjakon und sorgen für Nachschub. Im Winter sind die Boden durchgefroren und gut zu fahren, im Sommer taut der Permafrostboden auf. Und dann kommt sehr tiefer Schlamm. Oimjakon ist dann nur noch per Heli zu erreichen.
Klo.Die Toilettenbuden stehen draußen – ohne fließendes Wasser, ohne Strom, ohne Heizung. Urin verdampft sofort am Boden. Kein Ort zum Verweilen.
Reisen.Der Tourismus ist im Kommen. Reisemagazine und TV-Sender berichten häufiger über den kältesten Ort der Erde. Das macht neugierig. Deshalb stellt der Bürgermeister vor Ort schon Zertifikate an die Ankommenden aus. Komplett organisierte Touren kosten ab 5000 Euro.
Jakutsk. Die sibirische Großstadt mit rund 300 000 Einwohnern liegt 680 Kilometer entfernt von Oimjakon. Jakutsk gilt als die kälteste Stadt der Welt. Dorthin führt die Kolyma Straße durch das Werchojansker Gebirge. Sie zählt zu den gefährlichsten Straßen der Welt. Denn wer hier eine Panne hat, läuft immer Gefahr zu erfrieren. „Die Entfernungen sind wirklich gigantisch in Sibirien“, sagt Sebastian Balders.
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