Hilchenbach. Ingrid Lagemann ist in das Schulgebäude zurückgekehrt, in dem sie die Florenburgschule geleitet hat – und hat die Klimawelten eröffnet.
Die Geschichte geht so: Im Sommer 2008 zieht Ingrid Lagemann mit ihrer Florenburgschule aus dem Kirchweg aus, verlässt mit den Kindern die 1906 errichtete Stadtschule und das als Umwelt- und Agenda-Schule mehrfach preisgekrönte, im Laufe der Jahre geschaffene grüne Paradies um das Baudenkmal herum, fängt auf dem Schulberg neu an, entwickelt auch dort mit den Kindern eine zwischen Hochbeeten und Obstbaumwiesen blühende Landschaft. Im Sommer 2017 eröffnet Umweltminister Johannes Remmel die Klimawelten in der alten Schule am Kirchweg. Vorsitzende des Trägervereins „Klimabildungsstätte Südwestfalen“ ist inzwischen – Ingrid Lagemann.
Die Geschichte geht aber auch so: In den 1970ern machte ein Buch über den „Stummen Frühling“ die Runde, über den Frühling ohne Vogelgezwitscher. Der Gemeindekreis, in dem sie sich damals in Bielefeld engagierte, hat sie eingeladen. „Ich fand meinen Vortrag von 1976 wieder“, erzählt sie – die Themen von heute sind die Themen von damals. „Damals galt man allerdings schon als exotisch, wenn man ein anderes Waschmittel benutzte.“
Ingrid Lagemann, die in Brasilien geboren wurde, dort und in Deutschland aufwuchs, Lehrerin wurde, zunächst in Bielefeld, sich in der evangelischen Kirche engagiert, nach einer Familienzeit 1988 an der Florenburgschule wieder einsteigt, die sie von 2003 bis 2011 leitet, lässt sich zum Blick zurück verleiten. Über den Verantwortungsauftrag in der Schöpfungsgeschichte hat sie 1971 in ihrer Arbeit für das zweite Staatsexamen geschrieben. „Das Thema ist ein Lebensthema.“
Großes Netzwerk an Engagierten
Als der damalige Bürgermeister Hans-Peter Hasenstab die Idee für eine Klimabildungsstätte aufgriff, habe sie abgewunken, sagt die heute 71-Jährige. „Ich wollte Zeit für meine Enkelkinder haben.“ Doch die Idee, die alte Schule zu einer neuen, ganz anderen zu machen, war stärker.
Das Netzwerk an Engagierten wuchs, die Pensionärin brachte Kontakte ein. Ingrid Lagemann blieb vorsichtig, den Überschwang überließ sie anderen. „Das war eine nicht ganz einfache Zeit.“ Am Ende aber waren alle Voraussetzungen erfüllt: Die Klimawelten können die Schule für zehn Jahre kostenlos nutzen, die landeseigene Stiftung Umwelt und Entwicklung ermöglicht Investitionen, durch die Aufnahme in das Landesnetzwerk „Bildung für nachhaltige Erziehung“ wird es möglich, hauptamtliches Personal einzustellen. „In der Anfangsphase will man nicht zu hoch pokern“, sagt sie, immer noch vorsichtig, „man muss auch lernen, wirtschaftlich zu denken.“
Thema Mikroplastik greifbar gemacht
Wem macht Ingrid Lagemann Mut? Den Menschen, die die Klimawelten aufsuchen, natürlich. Zum „Küchentratsch“ mit Köchin Ulrike Neuhaus zum Beispiel, wo geredet, gebacken und gekocht wird, oder zum Kochen mit den Landfrauen: Immer nachhaltig, mit regionalen Produkten – die Klimaküche ist eine der ersten Einrichtungen der Klimawelten. Nebenan im neuen Klimalabor haben sie neulich in Experimenten anschaulich gemacht, was es heißt, wenn Ozeane versauern – die Schulkinder, die heute kommen, ahnen nicht, dass hier vor gut zehn Jahren noch ein Betreuungsraum für den offenen Ganztag der Grundschule war.
Anna Klein, eine der pädagogischen Mitarbeiterinnen, hat hier zum Beispiel das Thema Mikroplastik greifbar gemacht: „Wir haben einfach mal Duschgel gefiltert.“ Einer der Räume oben ist der Platz für das monatliche Repaircafé. Und dann gibt es die Veranstaltungs- und Seminarräume, darunter die ehemalige „Turnhalle“, für Schülerakademien, Lehrerworkshops, Vorträge und Ausstellungen. Dass Nachhaltigkeit auch praktisch inklusiv ist, versteht sich: Für ein barrierefreies WC hat die Aktion Mensch Geld dazu gegeben.
Anschauungsunterricht im Staudengarten
Oben unterm Dach, wo früher Lehrer-, Rektorzimmer und Schülerbücherei waren, entstehen die Ideen. Judith Schneider ist von Anfang an dabei, Janine Lückerath hat gerade als Elternzeitvertretung neu angefangen. Für die „Schulen der Zukunft“ in ihrem Einzugsbereich sind die Klimawelten das zuständige Regionalzentrum, für die jährlich ein Schwerpunktthema erarbeitet wird. Die anderen Schulen und Kitas können die Programme buchen, die die Mitarbeiterinnen entwickeln: Kräuterschätze sind so ein Thema. Oder der Blick über den Tellerrand: „Wo kommt das alles her, was wir essen? Wie geht es den Menschen, die die Bananen ernten?“ Und Insekten: „Das Thema hat sich ganz schnell entwickelt.“
Anschauungsunterricht ist direkt vor der Schultür möglich: Im Staudengarten summt und brummt es. Vielleicht legen sie in ein Klassenzimmer einfach auch mal einen Baumstamm. Von einem Baum, den die Borkenkäfer totgefressen haben. In dem Raum neben dem Büro ist – fast nichts. Hier probiert gerade Werner Halft, einer der Ehrenamtlichen, einen Escape-Room zum Klima-Thema aus.
Nachhaltiges Kochen und weniger Müll
„Das Wichtigste ist, dass man für sich selbst entdeckt, dass man etwas bewirken kann“, glaubt Ingrid Lagemann. Der Junge, der in der Küche seinen Smoothie zubereitet hat und in der Gruppe darüber spricht, „der hat ganz viel verstanden“. Die Menschen hier im Haus kochen nachhaltig, werfen weniger weg, lernen Zusammenhänge zwischen eigenem Handeln und der Veränderung des Klimas kennen.
„Unser Ziel ist, dass das Gespräch darauf kommt, was ich selbst tun kann“, sagt Ingrid Lagemann, „wenn gemeinsames Nachdenken entsteht, wird das politisch.“ So wie bei den jungen Menschen, die an den Fridays for Future auf die Straße gehen? Ja, sagt Ingrid Lagemann, „die haben erkannt, dass es wirklich eine Minute vor Zwölf ist.“ Noch reicht die Kraft der Klimawelten nicht, dieser Bewegung hier eine Basis zu geben. Aber Keppels Früchtchen, die Schülergenosssenschaft des Gymnasiums Stift Keppel, haben hier eine Plattform für ihre Säfte und Gelees.
Klein anfangen also. Mut ist etwas anderes als Tollkühnheit. Ingrid Lagemann spricht das nicht aus, wenn sie Nachhaltigkeit als Anspruch auch an die Entwicklung der Klimawelten anmeldet: Neue Angebote müssen abgesichert sein – so auch der Traum, die Schule nicht nur zu Veranstaltungen und für Workshops, sondern durchgehend als Begegnungsstätte und Ausstellungsraum zu öffnen. Eigenmittel müssen herbei, Sponsoren müssen geworben werden. Eine Strategie muss herbei, damit das Haus eines Tages eine hauptamtliche Geschäftsführung bekommen kann und auch nach den zehn mietfreien Jahren eine Zukunft hat. „Wir sind auf dem Weg“, sagt Ingrid Lagemann – der Verein leistet sich dafür einen Coach.
Beim Rausgehen fällt der Blick auf Sauerampfer und Knoblauchranken, die vor den Fenstern der ehemaligen Turnhalle wachsen. „Es gibt Zeiten, da sieht das nicht so gut aus.“ Auch dazu wird den Klimawelten etwas einfallen. Diese Geschichte ist hier zu Ende. Ingrid Lagemann arbeitet weiter. „Es ist schön, dass es so geworden ist.“
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