Schmallenberg. Die Umschläge waren an die Ratsmitglieder adressiert, Bürgermeister König spricht von einem „Versehen“. Was hinter dem Vorfall steckt.

Der Punkt Verschiedenes auf einer Tagesordnung sorgt selten für große Aufregung oder ausschweifende Diskussionen. Den Anschein erweckte auch die vergangene Sitzung des Schmallenberger Stadtrates vor der Weihnachtspause, ehe sich Stefan Wiese, Fraktionsvorsitzender der UWG, zu Wort meldete und fragte, was es mit den Umschlägen auf sich habe, die bei jedem Ratsmitglied auf dem Tisch lagen. Der Inhalt: Der Wachturm der Zeugen Jehovas, adressiert an alle Schmallenberger Stadtvertreter.

Bitte um Weitergabe

Bürgermeister Burkhard König antwortete noch während der Sitzung, die Umschläge seien, adressiert an die Ratsmitglieder, an die Stadt gesandt worden mit der Bitte um Weitergabe. „Ein Absender war nur auf wenigen Umschlägen ganz klein gedruckt“, so König: „Wir haben nicht erkannt, was der Inhalt ist.“ Im „Eifer des Gefechtes“ sei es „ein Versehen“ gewesen, diese Broschüre unkritisch an die Ratsmitglieder weiterzugeben: „Es kommt hin und wieder vor, dass an die Stadt relevante Post mit der Bitte um Weitergabe an die Ratsmitglieder geschickt wird.“ Zu den Inhalten der Broschüren könne König nichts sagen, antworte er auf Anfrage dieser Zeitung.

Auch interessant

„Ich war mehr als überrascht, ich war in dem Moment wirklich irritiert“, so Stefan Wiese: „Ich habe in der Sitzung, genauso wie zum Beispiel Frau Degner von den Grünen, gesagt, dass ich so etwas nicht haben möchte.“ Dass der Wachturm der Zeugen Jehovas ungefiltert von der Stadt weitergegeben werde, sei nicht in Ordnung, so Wiese: „Man kann natürlich nicht einfach Briefe öffnen. Aber der Bürgermeister hätte in diesem Fall darum bitten müssen, ein eigenes Exemplar anzufordern oder nachprüfen müssen, was in den Umschlägen ist, ehe er es weitergibt.“

In dem an die Ratskandidaten verteilten Wachturm (Nr. 2/2020) zitieren die Zeugen Jehovas unterschiedliche Bibelverse, schreiben unter anderem, dass Gottes Reich wiedergutmachen werde, was tausende von Jahren Menschenherrschaft angerichtet haben und was das für die Gläubigen bedeute.

Landespfarramt für Weltanschauungsfragen

Die Inhalte des Wachturms seien kritisch zu sehen, sagt Andrew Schäfer vom Landespfarramt für Weltanschauungsfragen, welches sich auch mit dem Thema Sekten auseinandersetzt: „Aber der Sektenbegriff an sich ist problematisch, er wird in der Wissenschaft nicht genutzt.“ Offiziell sind die Zeugen Jehovas seit 2006 als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt – genauso wie zum Beispiel die katholische oder evangelische Kirche.

Dem war ein jahrelanges juristisches Verfahren vorangegangen. „Das jemand über so viele Jahre so vehement um die Anerkennung als Körperschaft gekämpft hat, wie es die Zeugen Jehovas getan haben, hat es zuvor nicht gegeben“, sagt Schäfer: „Und das Widersprüchliche ist: Sie kämpfen um die Anerkennung des Staates, zeigen sich aber von ihren Glaubensüberzeugungen her den Strukturen des Staates gegenüber ablehnend.“

Formal sei das, was die Zeugen Jehovas tun, nicht verboten: „Bei dem Verschicken dieser Umschläge handelt es sich aus meiner Sicht aber eindeutig um einen Missionsversuch.“ Die Zeugen, so Schäfer, seien eine apokalyptische Endzeit-Gemeinschaft, die von ihren getauften Mitgliedern als exklusiv Erwählten für die endgültige Gottesgemeinschaft spricht. Und die Missionsarbeit habe das Ziel, die Menschen von dieser Gottesgemeinschaft zu überzeugen, sagt Schäfer. „Die Zeugen prägt nach meiner Erfahrung ein erhebliches Konfliktpotenzial, dazu gehört zentral ein starkes Schwarz-Weiß-Denken.“ Andere Religionen oder Ökumene würden in der Regel abgelehnt, genauso wie beispielsweise die Bluttransfusion oder das Feiern einiger Feiertagen. Schäfer berät ehemalige Zeugen Jehovas, ausgeschlossene Mitglieder oder Angehörige von Mitgliedern.

Sekteninformationen

Der Sektenbegriff wird in der Wissenschaft nicht (mehr) genutzt, weil er eine negative Wertung enthält. In der Regel ist von religiösen Gemeinschaften oder Bewegungen die Rede.

Trotzdem tragen viele Beratungs- und Informationsstellen den Titel „Sekte“, zum Beispiel die Sekten-Info NRW. Ein Grund dafür ist die Auffindbarkeit für Ratsuchende, weil der Sektenbegriff im Volksmund noch sehr geläufig ist.

Es gibt unterschiedliche Beratungsangebote. Die katholische und evangelische Kirche bieten Beratungen an, es gibt aber zum Beispiel auch staatliche Anlaufstellen oder Vereine wie die „Sekten-Info NRW“ mit Sitz in Essen, deren Arbeit zum Großteil durch Landesgelder, Kommunen oder Spenden finanziert wird.