Menden. Ein Streit vor einem Café an der Kolpingstraße eskaliert am Kirmesabend - so extrem, dass ein Mann auf einem Auge erblindet. Was ist passiert?
Es ist ein Fall, der alle Beteiligten am Mendener Amtsgericht noch viele Wochen beschäftigen wird: Einem Italiener (63) aus Hamm wird vorgeworfen, mit einem Gehstock aus Holz und Metall derart auf einen türkischstämmigen Mann aus Menden (39) eingeschlagen zu haben, dass dieser eine stark blutende Wunde erlitt und wenig später - trotz Behandlung in einer Dortmunder Spezialklinik - auf einem Auge erblindete. Elf Zeugen sind geladen. Doch schnell wird klar: Das scheint noch lange nicht zu reichen. Die Wahrheitsfindung gestaltet sich für Richter Martin Jung und die beiden Schöffen an seiner Seite am ersten Prozesstag schwierig.
„Ich bin nicht voll zufrieden mit der Ermittlung der Polizei.“
Ermittlungsarbeit lässt zu wünschen übrig
Besonders ärgerlich: Viele weitere Zeugen müssen erst noch ermittelt werden. Denn die Ermittlungsarbeit der Polizei sei lückenhaft. „Ich bin nicht voll zufrieden mit der Ermittlung der Polizei“, sagt Martin Jung und nennt die Ermittlung „äußerst unscharf“. Es beginnt bei unterschiedlichen Hausnummern in der Akte, zieht sich über verschiedene Auswertungen von WhatsApp-Videos und ein offenbar fragwürdiges DNA-Gutachten und mündet in unvollständigen Zeugenbefragungen - manche sehr kurz, andere Zeugen seien schlichtweg überhaupt nicht befragt worden. Zunächst sei darüber hinaus kein Täter ermittelbar gewesen. Das Opfer habe selbst recherchiert und der Behörde schließlich ein Facebook-Profil des angeblichen Täters vorgelegt, woraufhin es letztlich zur Anklage gekommen sei. Das findet vor allem der Anwalt des Angeklagten suspekt.
„Ich fand es schwierig. Es ist nicht verständlich.“
Das Unverständnis für diese Ausgangslage für die Verhandlung ist nicht nur bei Richter Martin Jung groß. Auch Staatsanwältin Milena Stoschek sowie der Nebenklagevertreter Björn Rüschenbaum und der Anwalt des Angeklagten, Axel von Irmer, können das Vorgehen nicht so recht nachvollziehen. „Das ist unglaublich“, sagt Axel von Irmer. Und ergänzt mit Blick auf das DNA-Gutachten: „Ich fand es schwierig. Es ist nicht verständlich.“ Der Richter stimmt ihm zu. Er habe sich intensiv damit auseinandergesetzt, um es nachvollziehen zu können. Es würden sich demnach Spuren des Angeklagten und auch des Opfers am Gehstock befinden. Aber waren die Sachverständigen des Privatinstituts, die die Proben ausgewertet haben, überhaupt allgemein vereidigt oder ist das Gutachten möglicherweise unbrauchbar?
Aber damit nicht genug: Macht es überhaupt Sinn bei dieser schwammigen Ausgangslage zu verhandeln? Diese Frage diskutieren die Profis ausgiebig. Dann steht der Entschluss. Zweieinhalb Jahre nach der Tat startet der Prozess. Der Vorwurf sei zu schwerwiegend, um es nicht zu tun. Immerhin gehe es um eine schwere Körperverletzung. Und der Angeklagte? Er sitzt ruhig in Winterjacke mit Fellkragen neben seinem Anwalt, hört zu und hat die Hände ineinander verschränkt. Sagen möchte er nichts zu dem Vorfall. Zwischendurch klingelt sein Handy. Lautstark schallt spanischklingende Musik durch den Saal. Nur hin und wieder zieht er die Stirn kraus oder schüttelt leicht den Kopf an diesem Tag, an dem rund siebeneinhalb Stunden verhandelt wird.
Pfingstmontag kommt es zu einem Tumult an der Kolpingstraße
Tatnacht. Es ist Pfingstmontag 2022, Kirmestag in Menden. Es ist bereits dunkel, etwa 22.30 Uhr. Eine Balverin will ihre Tochter von der Kirmes abholen und fährt langsam Richtung Innenstadt über die Kolpingstraße. „Ich bin nur 30 gefahren. Plötzlich war da ein Menschenauflauf, ein Tumult. Ich habe dunkle Personen gesehen“, sagt sie als erste Zeugin aus. Die 55-Jährige sieht wie vor einem italienischen Wett-Café „jemand mit einem Knüppel auf jemanden eingeschlagen“ hat. Sie reagiert und fährt zur Polizeistation, die nur wenige Meter entfernt ist. Sofort sagt sie Bescheid, doch Beamte kommen ihr bereits entgegen und machen sich auf den Weg. „Jemand lag auf dem Boden“, erinnert sie sich. „Es sah aus, als würden Menschen jubeln - so nach dem Motto ,hau drauf‘. Ich habe einen Schlag gesehen, aber ob die Person getroffen hat, weiß ich nicht.“
„Es sah aus, als würden Menschen jubeln - so nach dem Motto ,hau drauf‘. Ich habe einen Schlag gesehen, aber ob die Person getroffen hat, weiß ich nicht.“
Zwei kurze Videos werden im Saal präsentiert. Sie zeigen eine Szene innerhalb des Lokals, mutmaßlich nach der Attacke vor dem Café. Es ist eine Vielzahl an Männern erkennbar, es geht wuselig zu. Die Stimmung ist augenscheinlich aufgeheizt. Eine Person hält sich ein Tuch ans Auge. Vor dem Lokal ist ein helles Auto zu sehen. Die weiteren Zeugen - das mutmaßliche Opfer und zwei seiner Brüder - sehen sich die Videos an und sollen helfen, die Personen zu benennen, die bisher nicht als Zeugen geladen sind. Mühevolle Kleinstarbeit, Bildausschnitt für Bildausschnitt.
Mutmaßliches Opfer sagt: „Er hat versucht, mich zu töten“
Auch die Befragungen der Zeugen gestalten sich nicht ganz einfach. So fällt es unter anderem dem mutmaßlichen Opfer, einem türkischstämmigen 39-Jährigen, schwer, zwischen Erlebtem und Erzähltem zu differenzieren. Was hat er wirklich selbst gesehen, gespürt, wahrgenommen und wo mischt es sich mit Vermutungen? Der Richter muss ihn immer wieder belehren. Der Mann erzählt schließlich, er habe mit seinen Brüdern gegenüber ein Café eröffnen wollen, was beim Inhaber des italienischen Cafés nicht gut angekommen sei. Er habe das an diesem Abend klären wollen und sei rüber gegangen. „Er meinte, ich soll mich verpissen.“ Man habe ihm vorgeworfen, ein Polizeispitzel zu sein.
„Er hat versucht, mich zu töten. Das war hinterlistig. Ich kenne ihn nicht einmal. Er hat mich zu 50 Prozent behindert gemacht!“
Plötzlich habe der Angeklagte ihn geschubst und geschlagen, er wiederum habe sich verteidigt und es seien sehr viele Menschen aufgetaucht. Zeitweise habe er die Örtlichkeit auf Anraten eines Pizzabäckers verlassen, doch als seine Geschwister zur Unterstützung vor Ort eingetroffen seien, sei er zurück zum Café gerannt. Chaos. Einige Menschen hätten ihn festgehalten. Der Angeklagte habe mit dem Stock auf ihn eingeschlagen. In letzter Sekunde habe er sich etwas wegdrehen können. Er habe Sterne gesehen und sei zu Boden gegangen. Später sei er mit einem Krankenwagen ins Mendener Krankenhaus gekommen, wo ihm nicht geholfen werden konnte. Mit einem Privatwagen habe ihn sein Bruder in eine Spezialklinik nach Dortmund gefahren.
Zu 50 Prozent behindert
„Hätte er sich nicht eingemischt, hätte ich nicht mein Auge verloren. Ich bin ein halber Mensch geworden. Mein Auge ist tot. Das ist das Schlimmste für mich“, sagt der Mann in Richtung des Angeklagten. „Die Sache ist ernst! Ich sage die Wahrheit!“ Und weiter: „Er hat versucht, mich zu töten. Das war hinterlistig. Ich kenne ihn nicht einmal. Er hat mich zu 50 Prozent behindert gemacht!“ Und er wolle wissen, wieso er das getan hat.
Die Verhandlung wird am Freitag, 10. Januar, um 9 Uhr fortgesetzt.