Menden. Die Initiative „Augen auf!“ nutzt das Pogromgedenken für einen Aufruf zur Toleranz. Opfer von Diskriminierung bekommen eine Stimme.
Es ist der verbindende Moment an einem Abend, der viel Bedrückendes bringt. Auf dem Platz vor dem Alten Rathaus in Menden stehen rund 350 Menschen jeden Alters und winken zum Lied „Bunte Fahnen“ mit LED-Stäben in Regenbogenfarben. Die Botschaft, die dahinter steht, ist allerdings noch viel bedeutender: „Wir zusammen setzen ein Zeichen gegen Hass und Diskriminierung.“ Wer den Abend mit einem Gottesdienst in der Vincenzkirche, der Gedenkveranstaltung vor dem Alten Rathaus und am „Ort des Erinnerns“ auf der Hochstraße erlebt hat, der weiß: Diese Kraftanstrengung braucht es.
Bürgermeister erinnert an Pogromnacht in Menden
Der 9. November ist ein Schicksalstag für Deutschland. In der Pogromnacht am 9. November 1938 brannten Synagogen in ganz Deutschland, wurden vor allem jüdische Geschäfte zerstört, Menschen verschleppt, gequält und ermordet. „Auch hier in Menden kam es zu Taten voller Gewalt und Hass, die uns heute noch mit Trauer und Scham erfüllen“, sagt Mendens Bürgermeister Dr. Roland Schröder. Da ist aber auch der 9. November 1989 – der Tag der Freiheit, an dem die Mauer fiel. Was ist geblieben von dieser Freiheit? Es gibt genug Signale, dass nicht genug dafür getan wurde. Jedenfalls erleben auch in Menden viele Menschen einen Alltag, in dem sie nicht so leben können, wie sie möchten.
Das jedenfalls zeigen die Ergebnisse einer Umfrage, die Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit dem Netzwerk „Augen auf!“ in Menden durchgeführt haben. 7000 Karten wurden an Schülerinnen und Schüler der weiterführenden Schulen und Berufskollegs verteilt. Sie konnten in einer anonymen Online-Umfrage ihre Diskriminierungserfahrungen schildern, aber auch sagen, was sie sich gewünscht hätten und wer an ihrer Seite stand. 80 Schicksale wurden so bekannt. Es gibt Zitate auf 80 Tafeln, die noch zwei Wochen lang in den Schaufenstern von Mendener Geschäften zu sehen sind. Und hinter diesen Zitaten verbergen sich Geschichten und Schicksale, die betroffen machen müssen.
„„Ich hoffe, du gehst in ein KZ und lässt dich vergasen!““
„Es hat mir mehrfach die Kehle zugeschnürt“, sagt ein Mann am Ende der Veranstaltung. Mehrere Schülerinnen hatten vorgelesen, was andere in Menden erlebt haben. Zum Teil waren es kurze Zitate. „Ich hoffe, du gehst in ein KZ und lässt dich vergasen!“ Diesen Satz hat eine Schülerin gehört, weil sie nicht der Norm entsprach. Eine 39-jährige Schülerin aus Menden hat eine längere Geschichte erzählt. Sie berichtet davon, dass sie wegen ihres Kopftuchs beleidigt und verachtet wird. Ihre Antwort ist kein Hass: „Ich liebe Menden und ich liebe die Menschen hier“, schreibt sie und sie bietet sogar an: „Wenn hier mal meine Hilfe gebraucht wird, dann bin ich da.“
Es gibt Motive für Hass, die immer wieder auftauchen. Neben Anfeindungen wegen einer bestimmten Nationalität oder des Glaubens spielt sexuelle Orientierung immer wieder eine Rolle: Ob transsexuell, bisexuell, lesbisch oder schwul – Akzeptanz haben viele Schülerinnen und Schüler nicht erlebt, stattdessen Hass. Es sind Diskriminierungen, wie es sie auch 1939 gab. „Augen auf!“ setzt ein Zeichen dagegen: Die Veranstaltung wird zu einem Aufruf für Toleranz. Und die braucht auch Zivilcourage. Beleidigungen und Hass oder gar körperliche Gewalt dürfen nicht ignoriert werden – auch nicht im Internet.
Die Organisatoren verteilen am Rande der Veranstaltung neben den bunten LED-Stäben auch Karten, auf den sich Antworten auf die Frage „Was mir geholfen hätte...“ geben. Da ist etwa zu lesen „Dass mich jemand versteht“, „Dass mich jemand in den Arm nimmt und mir sagt, dass alles gut wird“ oder „Dass mir jemand sagt, dass ich gut bin, so wie ich bin“. Es sind also kleine Dinge, die Opfern von Diskriminierung helfen können. „Augen auf!“ gibt ihnen eine Stimme – und das über diesen einen 9. November hinaus. Was die Schülerinnen und Schüler zusammengetragen haben, muss mehr sein als eine Mahnung.
Das macht auch die Rede von Irina Rebbe deutlich, die Gedanken der Organisatoren äußert und großen Beifall erhält. „Diese Geschichten sind Berichte von unseren Kindern, in unseren Schulen und sie nehmen deshalb uns alle in die Verantwortung“, sagt die Lehrerin, die am Placida-Viel-Berufskolleg eine eigene „Augen auf!“-AG leitet. Ihr Appell: „Lassen Sie uns gemeinsam die Entscheidung treffen, überall dort, wo wir sind, wo wir uns bewegen und wo wir an unserer Gesellschaft teilhaben, die Mütter und Väter, die Freundinnen und Freunde, die Lehrerinnen und Lehrer, die Vertrauten und die Verantwortlichen zu sein, die von denjenigen gebraucht werden, die uns diese Geschichten zu erzählen haben! Lassen Sie uns nie vergessen, dass jeder Kontakt mit dem ,Du‘ zu einem Ausdruck des ,Ich‘ wird und ich in dir jederzeit mein allerbestes Ich entfalten und gestalten darf! Wenn uns das gelingt, dann war es nicht umsonst, dass uns unsere Schülerinnen und Schüler ihre Welt gezeigt habe und dann verbessern wir alle jeden Tag neu, die Welt in der wir leben, auf eine kleine, unscheinbare, aber im Leben von Betroffenen nicht zu übersehende Weise.“
Im Anschluss legen Bürgermeister Dr. Roland Schröder und der Landtagsabgeordnete Matthias Eggers (CDU) gemeinsam eine Schale am „Ort des Erinnerns“ nieder. Es ist die Zeit der Besinnung, der Ruhe. Schülerinnen und Schüler verlesen die Namen der 69 jüdischen Opfer, die während des Nationalsozialismus Hetze, Vertreibung und Gewalt ausgesetzt waren. Peter Hoppe von „Augen auf!“ bedankt sich, dass viele Menschen auch noch zum „Ort des Erinnerns“ gekommen sind. Das Ende einer ergreifenden Gedenkveranstaltung.