Die Geschichte klingt wie eine Räuberpistole, und doch ist sie wahr. Sie führt nach Libyen, ins Reich Gaddafis.
Menden. Samstags geht ein Redakteur nur dann in seine Redaktion, wenn er ungestört etwas Liegengebliebenes erledigen will. An jenem Samstag Ende August 1983 stand Hemers Bürgermeister Hans Meyer (1914-2007) plötzlich in der Tür. In der Hand ein Pfund Kaffee. „Koch uns doch mal einen, wir haben was zu besprechen,“ bat er. Und ganz beiläufig sagte er: „Ich hoffe, Du hast einen gültigen Reisepass, wir fliegen im September mit Deinen Kollegen von ,Zeit’ und ,Spiegel’ nach Libyen zu Gaddafi.“ Gut, dass ich noch saß.
Ortswechsel: An der Deutschen Schule in Brüssel hatte Werner Egenolf (Jahrgang 1937) fünf Jahre Erfahrungen an einer Auslandsschule gesammelt, als das Bundesverwaltungsamt Bonn an ihn herantrat und fragte, ob er ab 1983 die Leitung der Deutschen Schule in Tripolis in Libyen übernehmen würde. Seine Frau Gisela (Jahrgang 1943) könne dort ebenfalls unterrichten. Die Egenolfs sagten zu.
Gespräch mit Tripolis: Der Feind hört mit
Drei Jahre später. Werner Egenolf hatte sich auf die Schulleiterstellen in Menden und Geisenheim im Rheingau beworben. Am privaten St.-Ursula-Gymnasium in Geisenheim sollte die Leitung erstmals in weltliche Hände gelegt werden. In Menden wurde der Nachfolger von Dr. Toni Schulte gesucht. Egenolf konnte wählen, entschied sich für Menden. Am 29. April 1986 wählte der Rat der Stadt Menden Werner Egenolf zum neuen Leiter des Walram-Gymnasiums. Drei Jahre zuvor befanden wir beide uns, ohne uns zu kennen, in Tripolis gemeinsam an einem außerordentlich gefährlichen Ort. Wie gefährlich, das hat sich schnell herausgestellt.
Sobald ich erfahren hatte, dass ein mir unbekannter Werner Egenolf aus Tripolis nach Menden kommen sollte, habe ich ihn dort angerufen. Natürlich wollte ich der Erste sein, der ihn vorstellte. Doch kaum hatte ich angefangen, ein wenig über Gaddafi und seine Marotten zu frotzeln, da bremste er mich aus: „Wir werden wahrscheinlich abgehört.“
Unsere Erfahrungen tauschten wir erst aus, als er zurück in Deutschland war und gerade den Hausflur strich. Voller Farbkleckse saß er neben mir auf den Treppenstufen. Ein lockerer Typ, dachte ich mir.
Die blutige Spur des Revolutionsführers
Nein, Gaddafi selbst habe er nicht gesehen, wie denn auch, und er habe ihn auch nicht sehen wollen. Egenolf hatte hautnah miterlebt, was passierte, wenn das Fotografierverbot in Libyen übertreten wurde. Zwei Kolleginnen der Deutschen Schule waren deswegen kurz zuvor des Landes verwiesen worden. Obwohl gewarnt, habe auch ein Ingenieur einer deutschen Firma fotografiert. Gaddafis Schergen hätten ihn totgeschlagen. Egenolf erzählte, dass seine Schüler zu einem Sportfest in einem Stadion waren, in dem, wie erst nachher durch den deutschen Botschafter bekannt wurde, kurz vorher einige gegen Gaddafi rebellierende Studenten hingerichtet worden waren. Der Revolutionsführer sah sich vermehrt von Feinden umgeben und bedroht. Misstrauen.
Das waren tiefer greifende Erlebnisse als ich sie hatte. Ich war im September 1983 nahe dran an dem Mann, der am 1. September 1969 Libyens König Idris I. nahezu unblutig vom Thron stürzte und die „Arabische Republik Libyen“ ausrief. Dieser Oberst Muammar al-Gaddafi (1942-2011) nannte sich später nur noch Revolutionsführer, war aber ein Diktator und witterte überall Verrat. Er wechselte ständig seine Aufenthalte.
Leibwächter waren lauter junge Mädchen
Hans Meyer, der schon in Russland, China, Saudi-Arabien, in der Türkei, in Jugoslawien und in Ungarn Wirtschaftsgespräche geführt und Millionen-Aufträge für seine Hemeraner Firmen hereingeholt hatte, und wir sechs Journalisten wurden in einem geräumigen Beduinen-Zelt innerhalb der Mauern einer Kaserne zu einer Pseudo- Pressekonferenz empfangen. Fragen mussten vorher schriftlich eingereicht werden. Zu gern hätte ich das zauberhafte Gesamtbild im Zelt fotografiert: Gaddafi geschützt von seinen Leibwächtern, ausschließlich junge hübsche Mädchen im Kampfanzug, an der Seite mit Colt. Beeindruckend. Solch eine Optik-Idee muss man erst mal haben.
Werner Egenolf aber kannte die düstere Seite Libyens: „Unser Telefon wurde abgehört, Briefe konnten wir nur über die deutsche Botschaft weiterleiten. Das war ein seit Jahrzehnten unterdrücktes, von Spitzeln durchsetztes Volk, vergleichbar mit der DDR.“ Es gab regelmäßige Kontrollbesuche in der Schule. Einmal im Monat kam ein Mitarbeiter der Regierung ins Haus und schaute nach dem Rechten.
Erdkundebücher ohne Israel-Seiten
Aber das war noch nicht alles. Alle vier bis acht Wochen musste Werner Egenolf beim libyschen Unterrichtsministerium vorstellig werden und im Unterricht verwendete Schulbücher vorlegen. In Erdkundebüchern mussten beispielsweise die Israel-Seiten herausgerissen sein.
Dass es sogar ungemütlich werden konnte in Tripolis haben Bernd Lichtenberg und ich nachts erlebt. Das „Fest der afrikanischen Jugend“ auf dem riesigen „Grünen Platz“ unmittelbar neben dem alten Königspalast konnte ich trotz großer Wärme noch genießen. Überall rhythmische Musik und sich im Tanze wiegende Körper.
Wie anders kurz darauf im Hafen. Wir müssen wohl in eine verbotene Zone eingedrungen sein, denn plötzlich rammte jemand meinem Kollegen eine Pistole in den Bauch. Endstation. Unsere wütenden Proteste, dass wir deutsche Journalisten und Gaddafis Gäste seien, zeigte Wirkung: Man ließ uns in Ruhe.
Gaddafis Schwager ging es gut – Bürgern weniger
Nicht in Ruhe ließ uns der Schwager Gaddafis. Er lud uns im erst 1982 erbauten Grand-Hotel „Al Kabir“, in dem wir übernachteten, auf sein Zimmer ein, um Schnaps zu trinken. Trotz Alkohol-Verbot. Die Flaschen hatte er mit Klebestreifen unterm Bett befestigt, damit die Putzfrauen sie nicht fanden. Er hatte Monate vorher einen Autounfall gebaut und ließ sich in Deutschland wieder zusammenflicken. Er mochte die Deutschen.
Der Schwager ließ es sich gut ergehen. Den Bürgern selbst ging es in diesem sozialistischen Staat nicht so gut. Gisela Egenolf erinnert sich an die Versorgungslage in den Geschäften: „Eine Woche lang gab es Öl, eine Woche lang Mehl und eine Woche lang Milchpulver“.
Und zum Abschied Bomben der Amis
Dem frisch gewählten neuen Schulleiter des Mendener Walram-Gymnasiums lief ein schon romantisch verklärter Ruf voraus, noch bevor er da war. Er war „der Mann, der aus der Wüste kam“. Er konnte sogar Gitarre spielen. Noch mehr „Lagerfeuer“. Dazu Afrika und die Wüste, Gaddafi und Revolution. Spannend. Italienisch und Französisch sprach er auch, besaß das Chorleiter-Examen und klimperte auf dem Klavier. Die Erwartungen waren groß unter Schülern wie Lehrer-Kollegen.
Was alle nicht ahnten, auch die Egenolfs nicht: Die USA rächten sich in der Nacht zum 15. April 1986 mit einem Bombardement auf Tripolis und Bengasi als Vergeltungsaktion für einen Sprengstoffanschlag auf die bei US-Soldaten beliebte Diskothek „La Belle“ in Berlin mit drei Toten und 200 Verletzten. Für die USA war Gaddafi der Drahtzieher. Als die Bomben fielen, war Werner Egenolf noch in Tripolis, Frau und Töchter zum Glück schon in Deutschland.
Abenteuer im Sand der Sahara
Werner und Gisela Egenolf und ihre beiden Töchter Julia und Veronika ahnten, worauf sie sich einließen, als sie das Abenteuer Tripolis in Angriff nahmen. Aber sie durften auch tief in die Geschichte eintauchen. Sie spürten den Sand der Sahara und sahen die größte antike Stadt der Welt. Darüber und warum Deutschland viele Schulen im Ausland unterhält und welche Gefühle bei den Egenolfs aufkommen, wenn sie heute auf Libyen schauen, dazu mehr in Teil II.