Siegen/Finnentrop. Im Fall des in Finnentrop getöteten Seniors wurden am Montag die Plädoyers gehalten. Eine Verurteilung nach Jugendstrafrecht ist wahrscheinlich.

Das Gefühl der Fassungslosigkeit verließ Staatsanwalt Rainer Hoppmann auch im vorletzten Verhandlungstermin vor der Jugendkammer als Schwurgericht des Landgerichts Siegen nicht. Fassungslos sei er weiterhin über die „höchstaggressive Veranlagung des Angeklagten“, den er – Hoppmann – wegen Mordes angeklagt hatte. Am Montag hielt der Siegener Staatsanwalt sein Plädoyer in dem Fall, der Anfang Januar über die Gemeindegrenzen Finnentrops hinweg für Entsetzen gesorgt hatte. Ein 72-jähriger Mann wurde von einem 18-Jährigen auf grausame Art und Weise, auf offener Straße am helllichten Tage, durch nicht weniger als 14 Messerstiche getötet. Angeblich, weil der Senior den Jugendlichen zuvor beleidigt hatte.

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Für dieses Verbrechen solle der 18-jährige Angeklagte aus der Gemeinde Wenden, der sich noch am Tattag der Polizei stellte und geständig war, nach Jugendstrafrecht verurteilt werden und 13 Jahre hinter Gittern kommen. Eigentlich liegt hier das Maximalstrafmaß bei zehn Jahren, es sei denn, das Gericht sieht eine besondere Schwere der Schuld, dann kann das Gericht bis zu 15 Jahre nach Jugendstrafrecht verhängen. Die besondere Schwere sieht der erfahrene Staatsanwalt, der dem Angeklagten lediglich zugutehalten könne, dass sich dieser gestellt und die Tat umfänglich einräumte habe.

Deutliche Reifeverzögerungen

Dass der Wendener, der zum Tatzeitpunkt noch keine zwei Monate 18 Jahre war, nach Jugendstrafrecht verurteilt werden sollte, machte vor den Plädoyers auch der Vertreter der Jugendgerichtshilfe in seiner abschließenden Bewertung deutlich. Demnach weise der junge Mann deutlich Reifeverzögerungen aus und habe schädliche Neigungen. Er habe sich früh dem erzieherischen Einfluss vor allem seiner Mutter entzogen, Schule und Arbeit hätten ihn nie ernsthaft interessiert, er habe ein problematisches Umfeld und bis heute keine realistische Lebensplanung. Der Mitarbeiter der Kreisverwaltung Olpe erklärte: „Er lebt im Hier und Jetzt, ohne Hobbys. Er ist impulsiv und besitzt eine kurze Zündschnur, er empfindet keine Empathie für sein Opfer und ist gleichgültig. Er weicht von den gesellschaftlichen Normen weit ab.“

„Er lebt im Hier und Jetzt, ohne Hobbys. Er ist impulsiv und besitzt eine kurze Zündschnur, er empfindet keine Empathie für sein Opfer und ist gleichgültig.“

Der Vertreter der Jugendgerichtshilfe in seiner abschließenden Bewertung

Der psychiatrische Gutachter sprach zudem von einer „Störung des Sozialverhaltens“ und erklärte, dass sich der Täter ein eigenes Wertesystem aufgebaut habe: „Und wer sich daran nicht hält, der wird bestraft.“ Demnach habe der 72-jährige Rentner durch seine angeblichen verbalen Entgleisungen genau dieses Wertesystem durchbrochen, „deswegen sehe ich auch keine Anhaltspunkte, dass diese Tat aus dem Affekt passiert ist.“

Fahrrad-Unfall?

Behandelt wurde am Montag darüber hinaus ein Vorfall, der sich im September vergangenen Jahres im Wendschen ereignet hatte: Damals war der Angeklagte mit einem 78-jährigen Radfahrer frontal zusammengestoßen. Anschließend ist der 18-jährige Wendener nach eigener Aussage sowie nach Aussagen zweier Zeugen auf den älteren Mann losgegangen. „Ich lag noch nicht auf dem Boden, da stand er über mir und hat auf mich eingeschlagen. Ich war ihm hilflos ausgesetzt“, berichtete das Unfallopfer. Bis heute habe er schlaflose Nächte. Den Zusammenstoß samt anschließender Gewalt-Eskalation bekam ein 76-jähriger Unternehmer aus Wenden zufällig mit. Er kam dem hilflosen Radfahrer unverzüglich zur Hilfe - und geriet dann selbst ins Visier des Angeklagten. Der Unternehmer betonte: „Ich habe ihn festgehalten, dann hat er mich mit Schlägen bearbeitet.“ Er selbst musste anschließend im Krankenhaus genäht werden und erlitt eine Fraktur des Jochbeins. „Ich bin mir sicher: Hätte er damals ein Messer dabeigehabt, hätte er mich abgestochen. Das war kein Unfall, das war Absicht.“ Eine heute 50-jährige Frau erlebte den Unfall hautnah mit und betonte: „Ich war fassungslos, habe laut um Hilfe geschrieben und die Polizei gerufen. Der war wie von Sinnen.“

Nach der bisherigen Beweisaufnahme könnte sich folgendes am Tattag angespielt haben: Der junge Mann aus der Gemeinde Wenden, der bereits wegen diverser Delikte – unter anderem wegen Körperverletzung – der Polizei bestens bekannt ist, hatte an jenem Tage einen Termin beim Jobcenter in Olpe. Dorthin habe er fahren wollen, und zwar mit dem Bus, doch dort sei er eingeschlafen und erst am Finnentroper Bahnhof wieder aufgewacht. Er hielt sich anschließend im und am nahegelegenen Lennepark auf, wo er schließlich völlig zufällig auf sein späteres Opfer getroffen sein muss. Die beiden kannten sich offensichtlich nicht.

Verteidiger pocht auf Totschlag

Was dann geschah, lässt nicht nur den Staatsanwalt fassungslos zurück. Angeblich sei der Wendener von dem 72-jährigen Rentner gleich zwei Mal mit dem Wort „Nigger“ beleidigt worden. Anschließend, das betonte auch Pflichtverteidiger Thomas Trapp mehrfach, seien seinem Mandanten die Sicherungen durchgebrannt. Der geständige Täter stach anschließend gleich 14-mal mit einem Messer auf den Rentner, der mit seinem Hund spazieren war, ein und verletzte ihn dabei tödlich. „Er hat ihn hinterrücks angegriffen und wollte ihn töten“, betonte Hoppmann, „und für mich ist es auch unwahrscheinlich, dass es zu diesen Beleidigungen kam, wenngleich sie nicht gänzlich auszuschließen sind.“

„Mein Mandant wollte keinen Menschen töten. Es war eine spontane Entgleisung von Wut und Aggressionen.“

Thomas Trapp, Pflichtverteidiger

Thomas Trapp kann hingegen vermochte nicht zu erkennen, dass Mordmerkmale (Heimtücke und niedrige Beweggründe) vorliegen. Er forderte daher auch „nur“ acht Jahre wegen Totschlags. Bei der Heimtücke habe das Opfer arg- und wehrlos sein müssen, was er bezweifelte, denn nach den beiden Beleidigungen habe das Opfer „mit Konsequenzen“ rechnen können. „Es geht mir auch keineswegs darum, dem Opfer irgendetwas zu unterstellen, aber es muss einen Auslöser gegeben haben“, so seien die Behauptungen seines Mandanten durchaus schlüssig. Und auch niedere Beweggründe wollte Trapp nicht gelten lassen, denn: „Mein Mandant wollte keinen Menschen töten. Es war eine spontane Entgleisung von Wut und Aggressionen und eine Reaktion, die sich mit seiner Wertevorstellung deckte.“ Auch Trapp sagte seinem Mandanten „erhebliche Entwicklungsverzögerungen“ nach.

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Marie-Therese Hanfland-Ullrich, Vertreterin der Nebenklage, forderte indes eine Verurteilung nach Erwachsenen-Strafrecht. „Eine Jugendstrafe von unter zehn Jahren wäre unerträglich“, betonte die Rechtsanwältin. Der Angeklagte habe durch sein gleichgültiges Verhalten während der Verhandlung mehrmals gezeigt, dass ihn das Verfahren nicht interessiere. „Diese Respektlosigkeit sucht seinesgleichen“, sagte Hanfland-Ullrich und ergänzte: „Aus unserer Sicht liegt zudem das Mordmerkmal der Grausamkeit vor.“ Genauso wie Staatsanwalt Hoppmann sprach auch sie von einer „Fassungslosigkeit“, die nach den Plädoyers einmal mehr auf die Probe gestellt wurde. Denn statt sich aufrichtig bei den Hinterblieben zu entschuldigen, fragte der Angeklagte in seinem „letzten Wort“ allen Ernstes, ob er denn sein sichergestelltes Handy zurückbekomme, auf das er dringend angewiesen sei. Das Urteil wird am kommenden Donnerstag verkündet.