Wetter. Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die Wehrmacht das „Volk ans Gewehr“ gerufen. Die Folge: Zahlreiche Männer starben.
Heute vor 75 Jahren starb der Soldat Ewald Streicher, der am 5. Juli 1898 geboren wurde. Ein sinnloser Tod, 37 Tage vor Kriegsende.
Luise Kalbus wurde als drittes von vier Kindern eines einfachen Landarbeiterehepaars in Ostpreußen geboren. Da es, wie es früher oft so war, im Elternhaus vorne und hinten nicht für alle ausreichte, verließen die Kinder schon früh das Haus. Der Bruder Hans wurde bei einem Schneidermeister in die Lehre gegeben. Die ältere Schwester Betty heiratete früh einen Stellmachergesellen, die jüngste Schwester Elli heiratete einen Berufssoldaten. Luise zog nach Westfalen und ging als Hausmädchen in Stellung, wie man das früher sagte. Sie arbeitete bei einer wohlhabenden Familie in Wetter und wohnte auch dort in einem möblierten Zimmer. Sie erhielt dort freie Kost und Logis und es wurde ihr noch ein kleines monatliches Gehalt gezahlt.
Eigentlich unabkömmlich gestellt
Sie lernte den in der Winkelmann-Straße bei seinen Stiefeltern und seiner behinderten Schwester lebenden Ewald Streicher kennen - und lieben. Der strohblonde Ewald arbeitete im Schöntal bei der Firma Harkort-Eicken an der Walze und verdiente dort einen guten Lohn. Die beiden Verliebten waren sehr sparsam, nach der Eheschließung nahmen sie sich in der Bergstraße 13 eine kleine Wohnung. Als der Krieg ausbrach, musste Ewald kein Soldat werden, weil er in einem kriegswichtigen Betrieb arbeitete und als Stahlwalzer dort kriegswichtige Arbeit leistete. Er war UK gestellt (von seiner Arbeitsstelle unabkömmlich).
Es ging auf das Kriegsende zu. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs überrannten die Alliierten das deutsche Reichsgebiet. Die Amerikaner kämpften sich auf das Ruhrgebiet zu. Folge: blutige Schlachten, bei denen die materiell und personell geschwächte deutsche Wehrmacht dem feindlichen Druck nicht mehr standhalten konnte. Der gegnerischen Armee waren sie hilflos ausgeliefert. In den letzten Kriegstagen fand ein zügelloses Morden statt. Da eine große Zahl deutscher Soldaten getötet und gefangen genommen war, wurde deutschlandweit im Herbst 1944 ein so genannter Volkssturm gebildet. Der wurde auch in Wetter aufgestellt. Alle wehrtauglichen, obwohl wehrunerfahrenen Männer von 16 bis über 60 Jahren wurden mit Karabinern, Panzerfäusten und einer Armbinde mit dem Aufdruck „Deutscher Volkssturm Wehrmacht“ ausgestattet und als letztes Aufgebot in die Nähe von Meschede im Sauerland dem Feind entgegen geschickt. Es bestand keine Milde mit Jugendlichen und Greisen. „Volk ans Gewehr“, hieß die Parole.
Auch Ewald Streicher wurde in den letzten Kriegstagen nicht mehr verschont und zum Volkssturm eingezogen. Er versprach seiner Luise, vorsichtig zu sein und immer den Kopf schön herunter zu halten. Bis zur Kapitulation mussten jedoch zahlreiche Männer sterben. Auch Ewald Streicher, ihn traf eine amerikanische Gewehrkugel in den Kopf.
Als Luise Streicher diese Nachricht erhielt, zerriss es ihr Herz. Vor Schmerz über den Verlust ihres geliebten Ehemannes riss sie sich wie in Trance die Haare aus dem Kopf. Der Krankheitsverlauf war so schlimm, dass sie für mehrere Wochen im Krankenhaus behandelt werden musste. Nachdem sie einigermaßen wieder genesen und klar war, beschloss sie, die Stelle aufzusuchen, wo ihr Ewald begraben wurde. Sie bat ihren Schwiegervater inbrünstig, ihr dabei zu helfen, ihren Ehemann zu suchen und nach Hause zu bringen.
Geliebten nach Hause geholt
Sie holten den Handwagen vom Hof und zogen diesen hinter sich her in die Richtung des Ortes, in dem Ewald Streicher gefallen war. Sie fragte Bewohner der nahen Ortschaft, in der sie auch übernachtet hatten, wo die in der Gegend gefallenen Soldaten beerdigt wurden. Da ihr Ewald ganz helle Haare hatte, konnte sich ein Anwohner noch daran erinnern, wo sie einen strohblonden Soldaten notdürftig bestattet hatten. Luise und ihr Schwiegervater öffneten mit geborgtem Spaten und mit den Händen das Grab und gruben den in einer Zeltplane gewickelten Ewald Streicher aus dem Erdreich heraus. Nachdem Luise ihrem Ewald die klaffende Kopfwunde mit ihrem Schal verbunden hatte, luden sie den notdürftig gesäuberten Leichnam in den Handwagen und zogen ihn in Richtung Wetter hinter sich her.
Dort wurde Ewald Streicher auf dem Heldenfriedhof in der ersten Reihe beigesetzt. Luise überhäufte den Grabhügel mit Blumen und Gebinden. Kein Grab war schöner als das ihrige. Als der Friedhof (heute Park der Ruhe) neu gestaltet wurde, war es nicht mehr gestattet, Grabschmuck dort niederzulegen, was Luise fast das Herz zerbrach. Die Liebe zu ihrem Ewald dauerte ewig an, bis hinein in ihren Tod.
Autor Herbert Sabiers, Jahrgang 1943, überlebte den Zweiten Weltkrieg, obwohl am 14. April 1945 eine Granate in der Trappenstraße in Wetter einschlug. Seine Schwester fiel damals auf ihn und schützte ihn mit ihrem leblosen Körper. Auch der Bruder starb. Die Ereignisse hat der Wetteraner in einem Manuskript festgehalten.